Quellen für die bearbeiteten Bilder:
Wikipedia Commons, File: Leopard 2 A5 der Bundeswehr.jpg, 29.8.2022, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Leopard_2_A5_der_Bundeswehr.jpg;
Datei: Bundesarchiv Bild 146-1971-053-63, Köln, USTruppen vor zerstörten Gebäude.jpg; https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Bundesarchiv_Bild_146-1971-053-63,_K%C3%B6ln,_US-Truppen_vor_zerst%C3%B6rten_Geb%C3%A4ude.jpg
Schlachtfeld von Verdun [1916] heute
„Entlang der früheren Front bei Verdun ist die Erde immer noch mit Schwermetallen und Chemikalien verseucht. […]
Ihre 2007 veröffentlichte Studie ergab, dass der Boden gesättigt ist mit Schwermetallen, Kupfer, Blei und Zink, vor allem aber mit Arsen und Ammoniumperchlorat – Chemikalien, die in den Zündern der Granaten verwendet wurden. Die Arsen-Konzentration ist 1000- bis 2000-mal höher als normal. […]
„Es herrscht eine allgemeine Amnesie, seit einhundert Jahren“, sagt Jacky Bonnemains von der Umweltgruppe Robin des Bois.
Bonnemains leistet an der früheren Front bereits seit 14 Jahren Kärrnerarbeit. Noch immer vergifteten die Waffen des Weltkriegs die Menschen, sagt er. Das Arsen hat inzwischen das Grundwasser erreicht, die Böden sind voller Blei aus den Schrappnellgeschossen.“
Quelle: Hopquin 2014, www.sueddeutsche.de, 24.1.2014.
Einleitung:
Spätestens nach einem Jahr hat sich der Ukraine-Krieg zu einem Abnutzungskrieg entwickelt, der beiden Seiten kaum Gewinne bringt, sondern ihnen immer mehr Opfer an Menschen und Material abverlangt. Vergessen sind die hehren Ziele der Europäer, die sich nach Ende des Ersten Weltkrieg geschworen haben, kein zweites Verdun zuzulassen. Damals starben während des Ersten Weltkriegs allein an diesem französischen Ort ca. 700.000 Soldaten, u.a. durch den Einsatz einer neuen Waffe: des Giftgases. Die „Knochenmühle von Verdun“ wurde nach Kriegsende zu einem Mahnmal und Beginn einer deutsch-französischen Aussöhnung und gesamteuropäischen Zusammenarbeit.
Die nachfolgenden Generationen der Europäer haben ganz offensichtlich dieses historische Erbe vergessen, wenn sie mit ihren Waffen den Krieg in der Ukraine weiter anheizen. Schätzungen über die Zahl der bisherigen Todesopfer in den sozialen Netzwerken werden sogar dementiert. Sie könnten „die militärische Überlegenheit Russlands in dem Krieg widerspiegeln.“ (Siggelkow 2023, ARD-Faktenfinder). Dort ist die Rede von „Russland: 18.480 Tote – Ukraine: 157.000 Tote; Russland: 44.500 Verletzte – Ukraine: 234.000 Verletzte.“ (Stand: 14.2.2023, a.a.O.). Kiew sprach am Jahrestag des Beginns der russischen Invasion dagegen von 145.850 gefallenen russische Soldaten (stern.de, 24.2.2023).
Die Summe von insgesamt 300.000 Toten nach einem Jahr scheint demnach realistisch zu sein. Hinzu kommen 13 Millionen Flüchtlinge nach Angaben des UN-Hilfswerks UNHCR (stern.de, 24.2.2023). Doch wo werden sie in Zukunft leben können, wenn die umkämpften Gebiete der Südost-Ukraine mit giftiger und umweltschädlicher Munition kontaminiert werden wird. Wie kann der ukrainische Präsident für sein Territorium und seine Bevölkerung den Einsatz von Uran-Munition zulassen. Bisher waren es immer Besatzer, die solche Schäden in Kauf genommen haben. Die Ukraine sollte nicht nur den Invasoren, sondern auch vor den eigenen Kriegsherren verteidigt werden.
Die Unterstützerstaaten des NATO-Bündnisses stehen in der Pflicht, über ihre Mitverantwortung für eine mögliche Eskalation nachzudenken. Abgereichertes Uran ist als Nebenprodukt der Atomwirtschaft zwar nur „schwach radioaktiv“, dafür daher besonders giftig und daher gefährlich für Mensch und Natur. Zweifel an dieser Art von Massenvernichtungswaffen sind nicht zuletzt deshalb angebracht, weil der engste Verbündete Kiews und Hauptakteur im Hintergrund, die USA, bereits an einem „Sieg“ gegen Russland zweifeln. Der höchste US-Militär, Generalstabschef Mark Milley, sagte Ende 2022: „Wenn es eine Gelegenheit zu Verhandlungen gibt, wenn Frieden erreicht werden kann, ergreifen Sie sie. Nutzen Sie den Moment.“ (zitiert nach: edition.cnn.com, 11.11.2022).
Dieses Thema im Fokus bietet Hintergrundwissen über den bisherigen Einsatz dieser äußerst gefährlichen Uran-Munition. Es ruft in Erinnerung, dass der Krieg in der Ukraine am Ende einer langen Kette ungelöster militärischer Konflikte steht, die bereits verheerende Schäden angerichtet haben. Dieses Fokus-Thema möchte deutlich machen, dass der Krieg in der Ukraine nicht allein von Russland zu verantworten ist. Er muss als das Ergebnis eines Aktion-Reaktions-Schemas zwischen Atommächten betrachtet werden. Hauptursache hierfür ist das Fehlen eines weltumspannenden Sicherheitssystems, in dem Massenvernichtungswaffen, zu denen auch die Uran-Munition gehört, verboten und geächtet gehören.
DER RECHTLICHE UND POLITISCHE RAHMEN FÜR EINE WELTWEITE ÄCHTUNG DER URAN-MUNITION
♦ Abgereichertes Uran ist ein Abfallprodukt der Atomwirtschaft, die Uranerz (U 238) mit einem Uran-Isotop (U 235) anreichert, um damit effektives Brennmaterial für AKWs und Kernwaffen herzustellen. Das schwach radioaktive Rest, das abgereicherte Uran, eignet sich wegen seiner hohen Dichte zur Herstellung einer Panzer brechenden Munition. Gleichwohl sie nicht zum Arsenal der Atomwaffen gehört, gilt sie als besonders giftig. Nach diesem Kriterium fällt sie unter das Verbot des Zusatzprotokolls (1977) zu den Genfer Abkommen (1949):
Genfer Abkommen (12.8.1949) über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte, Protokoll I, Art. 35 (8.6.1977)
Grundregeln
1. In einem bewaffneten Konflikt haben die am Konflikt beteiligten Parteien kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Methoden und Mittel der Kriegführung.
2. Es ist verboten, Waffen, Geschosse und Material sowie Methoden der Kriegführung zu verwenden, die geeignet sind, überflüssige Verletzungen oder unnötige Leiden zu verursachen.
3. Es ist verboten Methoden oder Mittel der Kriegführung zu verwenden, die dazu bestimmt sind oder von denen erwartet werden kann, dass sie ausgedehnte, lang anhaltende und schwere Schäden der natürlichen Umwelt verursachen.
Quelle: Zusatzprotokoll I, 1977 zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 (Stand am 12. Juli 2018).
♦ Heute gehören 174 der 193 UN-Mitglieder zu den Staaten, die das Protokoll I zu den Genfer Abkommen (1949) ratifiziert haben (ihl-databases.icrc.org). Es gibt keine Sanktionsmechanismen, doch zeigen Klagen, das Entschädigungszahlungen durchsetzbar sind (s.u.). Von den Atomwaffen-Staaten haben sich dem Protokoll nur Russland, China, das Vereinigte Königreich, Frankreich, und Nordkorea angeschlossen (mit teils einschränkenden Zusatzerklärungen), nicht aber die USA, Indien, Pakistan und Israel.
♦ Im Jahre 2007 hat die UN-Generalversammlung einen Monitoring-Prozess angestoßen, der die Auswirkungen des Einsatzes von Waffen mit abgereichertem Uran überwachen soll. Der UN-Generalsekretär muss in Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) und der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) aller zwei Jahre über die „möglichen Auswirkungen von Uran auf Mensch und Umwelt“ ausführlich Bericht erstatten (un.org/disarmament).
♦ Ein wichtiges Gremium ist der Wissenschaftliche UN-Ausschuss zur Untersuchung der Auswirkungen atomarer Strahlung (www.unscear.org). Der Untersuchungsbericht von 2016 hält die Risiken von Gesundheitsschäden durch Uran-Munition für gering (Report 2016: 431). Er bestätigt aber die Toxizität von Uran, die durch Trinkwasser oder Nahrungsmittel die Gesundheit beeinträchtigen könne (a.a.O.: 436). „Die tägliche Gesamtaufnahme [der Grenzwert] beträgt etwa 1,5 μg/d (18,6 mBq/d von 238U)“ (a.a.O.: 438).
USA/NATO BESTREITEN FOLGESCHÄDEN UND IHRE VERANTWORTUNG FÜR DIE OPFER
♦ Das Vereinigte Königreich gehört zwar zu den Unterzeichner des Zusatzprotokolls, doch gab es 2002 eine einschränkende Erklärung zu Artikel 35 ab. Die Risken seiner Kriegsmittel seien „objektiv auf der Grundlage der zu diesem Zeitpunkt verfügbaren Informationen zu beurteilen“ (Declaration 2.7.2002). Es stützt sich auf den UN-Bericht von 2016, der für Uran-Munition nur wenig Risiken sieht (Report 2016: 431). BBC-Artikel verweisen dagegen auf einen neuen UNEP-Bericht, wonach ein erhöhtes Krebsrisiko bestehe (bbc.com, 23.3.2023).
♦ Da die USA das Zusatzprotokoll der Genfer Konvention (1949) ablehnen, können sie offener mit den Risiken umgehen. So bestreitet auch die US-Regierung, dass der Einsatz von Uran-Munition die Gesundheit ihrer Soldaten beeinträchtigt habe. Doch erwähnt sie neuere Forschungen, wonach „es einen Zusammenhang zwischen einen erhöhten Uran-Anteil im Urin bei diesen Veteranen und einer niedrigeren Knochenmineraldichte (BMD) geben kann“. US-Veteranen haben ggf. Anspruch auf Entschädigung (publichealth.va.gov)
♦ In Italien verklagten Soldaten die Regierung auf Schadensersatz für ihr „Balkansyndrom„. So wurde das Krankheitsbild infolge ihres Einsatzes in den Jugoslawienkriegen bezeichnet, in Bosnien (1993-1995) und Kosovo (1999). Sie litten an Vergiftungserscheinungen, die von Uranstaub ausgelöst werden. Insgesamt sollen 331 verstorben und 3.700 Soldaten erkrankt sein (fr.de, 17.2.2017). Das Gericht verhängte hohe Entschädigungssummen, weil Italien im Gegensatz zu anderen NATO-Staaten nicht vor den Risiken gewarnt hatte.
♦ Das Österreichische Bundesheer veröffentlichte eine Studie, die den Einsatz von Uran-Munition kritisch hinterfragt. Vielerorts werde Uran bereits durch das weniger giftige Wolfram ersetzt. Die Autoren schätzen, das die USA bzw. NATO in den letzten Jahrzehnten ca. 700 Tonnen an Munition mit abgereicherten Uran verschossen hätten, davon allein 150 Tonnen zu Übungszwecken (Wildauer, Guba 2022). Sie referieren die UN-Studien und betonen die Gefahr von langfristigen Umweltschäden, vor allem wenn die Böden nicht dekontaminiert werden.
DIE RUSSISCHE FÖDERATION VERZICHTET OFFIZIELL AUF DEN EINSATZ VON URAN-MUNITION
♦ Russland hat als Nachfolgestaat der Sowjetunion das Zusatzprotokoll der Genfer Abkommen und deren Zusatzprotokoll übernommen. Staatspräsident Vladimir Putin versicherte, dass Russland zwar „Hunderttausende solcher Granaten“ besitze, aber nicht einsetzen wolle (radio1.news, 25.3.2023). Auch die Ukraine hat mit ihrer Eigenstaatlichkeit dieses Erbe übernommen, will aber nun ihren Kurs ändern: Das Verteidigungsministerium bestätigte, dass es von den Briten Uran-Munition erhalten werde (mil.in.ua, 21.3.2023).
♦ Darüber hinaus betrachtet Russland abgereichertes Uran nicht als „Abfallprodukt“ der Atomwirtschaft, sondern als „Rohstoff zur Herstellung von sogenanntem MOX-Brennstoff für schnelle Neutronenreaktoren“ (ria.ru, 3.3.2020). Mit dieser Technologie ist Rosatom ein globaler Marktführer und unterhält enge Handelsbeziehungen mit westlichen Staaten (neftegaz.ru, 27.6.2020): Bis heute, trotz Ukraine-Krieg, werden abgebrannte Brennstoffe aus der EU und den USA in Russland receycelt (neftegaz.ru, 10.3.2023).
♦ Das russische Verteidigungsministerium reagierte auf die Ankündigung der britischen Regierung zur Lieferung von Uran-Munition an die Ukraine. Es warf den NATO-Staaten vor, durch diese Uran-Munition willentlich Umweltschäden in Kauf zu nehmen, obwohl Wolfram ein geeigneter Ersatz für Uran wäre. Es würde „der Ukraine […] einen enormen wirtschaftlichen Schaden zufügen und den Export landwirtschaftlicher Produkte […] für Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, verhindern“. (mil.ru/news, 24.3.2023).
♦ Das Thema Uran-Munition nutzt Russland zur Darstellung seiner Bedrohungsperzeption gegenüber den NATO-Staaten. Es ruft die Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO (1999) in Erinnerung, die ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrats stattfand. Russland hielt sich damals zurück, kritisiert aber heute umso mehr die damalige Kriegsrhetorik: „Der Befehl zur Bombardierung […] wurde von NATO-Generalsekretär Javier Solana erteilt, der sagte, die Operation sei ‚humanitär‘.“ (mil.ru/news, 24.3.2023)
DER KRIEG IN JUGOSLAWIEN 1999: LANGZEITSCHÄDEN IN BOSNIEN, SERBIEN UND KOSOVO
♦ Im Gegensatz zu den italienischer Soldaten hatten Serben mit ihren Entschädigungsklagen kaum Erfolg. Die NATO-Staaten sehen sich nicht zuständig, so dass sie vor Belgrader Gerichten ausgetragen werden. Zudem verweigerten sie anfangs die Herausgabe von Informationen über die Abwurfstellen, was sowohl Maßnahmen zur Dekontamination wie auch die Beweislage für Folgeschäden erschwerte. Rechtsanwalt Srđan Aleksić spricht von einem “ Ökozid – ein Verbrechen gegen die Natur“ (kosmo.at, 12.3.2021, welt.de, 31.3.2023).
♦ Dem IPPNW-Bericht aus dem Jahre 2012 zufolge gingen allein im Kosovo 70 Prozent der 12,7 Tonnen an Uran-Munition nieder, die auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien verschossen wurden (IPPNW-Bericht 2012: 31). Die NATO schädigten damit genau jene Bevölkerung, die sie vor den vermeintlichen serbischen Aggressoren zu schützen vorgaben. Die Erforschung der Langzeitschäden wird durch den mangelnden Willen der regierenden Eliten und dadurch behindert, dass große Flächen bis heute vermint sind.
♦ Auch in Bosnien-Herzegovina sind die Landminen eine große Sicherheitsgefahr für die Bevölkerung, weil sie auch die Reinigung der Böden von Schadstoffen verhindern: Noch heute liegen dort noch ca. 180.000 nicht explodierte Sprengkörper. „Gefunden und beseitig wurden seit 1996 über 136.000 Minen.“ (dw.com, 6.8.2021) Fast 30 Jahre nach dem NATO-Militäreinsatz, der ebenso kein Mandat vom UN-Sicherheitsrat hatte, mobilisiert die EU 500 Soldaten und 10 Millionen Euro für die Minenräumung in Bosnien (europarl, 6.7.2022).
♦ An Untersuchungen der Langzeitschäden durch Uran-Munition zeigen nicht nur die beteiligten NATO-Staaten wenig Interesse. Auch die Regierungen der Länder des Westbalkan verdrängen das Thema, um einem EU-Beitritt ihrer Staaten nicht zu schaden. So stimmte das serbische Parlament mehrheitlich für ein Abkommen, das sämtlichen NATO-Vertretern Immunität und andere Privilegien wie Steuerfreiheit zusichert (serbiennachrichten, 28.3.2016). Im Kosovo gibt die Korruption den Betroffenen wenig Hoffnung auf eine Aufarbeitung (saechsische.de, 15.2.2021).
DIE KRIEGE IM IRAK UND AFGHANISTAN UND DEREN FOLGESCHÄDEN
♦ Dem „Balkan-Syndrom“ vorangegangen war das sogenannte „Golfkriegssyndrom“ unter US-Soldaten, die 1990/91 im Zweiten Golfkrieg gegen den Irak im Einsatz waren. Veteranen litten nachweisbar an „Erschöpfung, Muskelschmerzen, Gedächtnisschwund“, Depressionen und Schlafstörungen (spiegel.de, 11.3.2008). Erstmals stellten Mediziner einen Zusammenhang mit der eingesetzten Uran-Munition her, der jedoch bis heute bestritten wird.
♦ Nach offiziellen Angaben wurden im Zweiten Golfkrieg ca. 300 Tonnen Uran-Munition verschossen. Zum Dritten Golfkrieg 2003 gibt es ganz unterschiedliche Zahlen. Während Regierungsstellen ca. 200 Tonnen angeben, liegen die Schätzung von Experten zwischen 100 und 1.700 Tonnen (Wildauer, Guba 2022). Das IPPNW geht von der höheren Zahl aus und spricht über die nachweisbaren Folgen: In der Stadt Falludscha erkrankten danach Kinder 12-mal häufiger an Krebs. Die Leukämierate unter Kindern stieg sogar um 38-Fache (IPPNW Falludscha).
♦ Auch in Afghanistan (2001 – 2021) wurde Uran-Munition verschossen, über deren Umfang bis heute nichts Genaues bekannt ist. Das Schweigen wurde erstmals durchbrochen, als der afghanische Präsident Hamid Karzai seinen Verbündeten vorwarf, Uran-Waffen einzusetzen (scientificamerican.com, 25.6.2011). Daraufhin führten Forschungsberichte der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) die erhöhte Schwermetallkonzentration auf Uran-Munition des sowjetischen Militärs zurück (IAEA 2018).
♦ Von den Krankheitsbildern (IPPNW 19.2.2014) wollen auch deutsche Behörden nichts wissen. Die Forderung von 200 Soldaten nach Entschädigungen bleibt ungehört (Mueller-Töwe, 2.8.2019). Auf eine Parlamentsanfrage antwortet die Bundesregierung: „Es existieren keine internationalen Abkommen, die eine Verwendung von Munition mit abgereichertem Uran ächten. Es besteht keine rechtliche Grundlage, Partnerstaaten die Verwendung von Munition mit abgereichertem Uran in unter deutscher Kooperation hergestelltem Gerät zu untersagen.“ (Drucksache, 12.3.2020)
DER EINSATZ VON URAN-MUNITION IN LIBYEN UND SYRIEN
♦ Im Gegensatz zu allen vorherigen Militäroperationen kann sich die NATO mit ihrem Einsatz in Libyen auf ein Mandat des UN-Sicherheitsrats stützen (Resolution 1973 17.3.2011). Deutschland als nichtständiges Mitglied enthielt sich damals der Stimme. Ursprünglich ging es um eine Überwachung der Flugverbotszone zum Schutz der Zivilbevölkerung. Bereits fünf Tage später starte die NATO ihre Militäraktionen gegen die libysche Armee. Es ging ihr um einen Regimewechsel, der in einem Stellvertreterkrieg mündete (bundeswehr.de, 27.9.2021).
♦ Jahre später berichteten russische Quellen über den Einsatz von Uran-Munition (sputnikarabic.ae, 2018/2022). Sie stützen sich auf Berichte Libyischer Atomforscher, die in vielen Städten und Gebieten ihres Landes Spuren von Uran-Munition sicherstellten. Der libysche Spezialist Al-Durouqi sprach auch darüber, dass „die Regierungen Angst haben, sich an internationale Organisationen und die NATO zu wenden“ (a.a.O.). Sie hoffen deshalb auf eine Unterstützung durch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) und die UN-Generalversammlung.
♦ Im Falle Libyens wurde die IAEA aktiv. Bei einer Inspektion (14.3.2023) stellte sie fest, dass im Süden Libyens „10 Fässern mit etwa 2,5 Tonnen Natururan“ verschwunden seien, d.h. nicht mehr unter staatlicher Kontrolle stünden (dw.com/ar, 15.3.2023). Zwei Tage später tauchten sie wieder auf. Es sind Reste des 2003 aufgegebenen libyschen Atomwaffenprogramms mit ca. 1000 Tonnen Uran (dw.com/ar, 17.3.2023). Die Erklärungen der IAEA blieben „vertraulich„, obwohl davon Gefahren für Mensch und Umwelt ausgehen.
♦ Ende 2015 setzten die USA nach offiziellen Informationen auch in Syrien Uran-Munition ein (foreignpolicy.com, 14.2.2017). Das US-Militär brach also sein Versprechen aus den Erfahrungen des Irak-Kriegs. Dennoch blieben die Einsatzorte bisher geheim, so dass keine Gegenmaßnahmen zum Schutz der Bevölkerung getroffen werden können (icbuw.eu, 17.3.2020). Syrische Regierungsstellen werfen den USA vor, damit ihren Atommüll entsorgen zu wollen. Doch sei dieses Thema längst ein „globales Problem“ geworden (albaathmedia.sy, 26.5.2020).
POSITIONEN UND REAKTIONEN DER NATO-STAAEN ZUR LIEFERUNG VON URAN-MUNITION AN DIE UKRAINE
♦ Am 20.3.2020 verkündete die Verteidigungsministerin des Vereinigten Königreichs, Annabel Goldie, dass London Ende März 2023 der Ukraine Uran-Munition liefern werde, zusammen mit 14 Challenger-2-Panzern (militarywatchmagazine.com, 21.3.2023). Kritik daran wird als „russische Desinformation“ abqualifiziert. London setze seit Jahren Granaten mit abgereicherten Uran ein. „Es ist eine Standardkomponente und hat nichts mit Atomwaffen oder -fähigkeiten zu tun.“ (cnn.com, 21.3.2023)
♦ Unterstützt wird diese Position von US-amerikanischen Forschungsinstituten. So betonte John Erath vom Zentrums für Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung in Washington: „Sie [Granaten mit abgereichertem Uran] gelten nicht als Atomwaffen. Sie haben keine nukleare Komponente.“ (euronews.com 5.4.2023) Auf die Frage nach den Langzeitfolgen für Mensch und Natur heißt es weiter, dass jeder Krieg extreme Umweltprobleme verursache, „ein paar Geschossen mit abgereichertem Uran“ mache die Sache nicht schlimmer. (a.a.O.)
♦ Von deutschen Friedensforschungsinstituten erfährt man kaum etwas über die Risiken einer Eskalation, weder vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Friedenspoltitik (ISFA), noch von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). Eine dingende Forschungsfrage wäre, wo die Millionen ukrainischer Flüchtlinge zukünftig leben werden, wenn ihre Heimat durch die Umweltkatastrophen des Krieges unbewohnbar wird? Mit welchen Instrumenten könnte Deutschland Schlimmers vermeiden?
♦ Während die deutsche Aussenpolitik keine eigene Initiativen ergreift, reist der französische Präsident Emmanuel Macron nach China, um mit Staatschef Xi Jinping über eine Lösung des Ukraine-Kriegs zu sprechen. Trotz der Differenzen in Menschenrechtsfrage, waren sie sich einig, dass die Diplomatie mehr gegen die Gefahr einer atomaren Eskalation tuen müsse. „Alle Parteien müssen ihren Beitrag leisten und […] Voraussetzungen für einen Waffenstillstand und Friedensgespräche schaffen.“ (china-embassy.gov, 6.4.2023)
REAKTIONEN RUSSLANDS AUF DIE WAFFENLIEFERUNGEN UND DEREN AKTUELLES ESKALATIONSPOTENZIAL
♦ Die Ankündigung des Vereinigten Königreichs, Uran-Munition an die Ukraine zu liefern, hat Russland unter Druck gesetzt. Staatspräsident Vladimir Putin reagierte noch am selben Tag: Er betrachte die Uran-Munition als „Waffen mit einer nuklearen Komponente“ und kündigte Gegenmaßnahmen an (radio1.news, 21.3.2023). Da er seinerseits einen Einsatz dieser Waffen wegen der Folgeschäden ausschloss (radio1.news, 25.3.2023), war bereits absehbar, dass Moskaus Antwort die NATO-Staaten treffen wird.
♦ Als erste konkrete Gegenmaßnahme kündigte Russland die Stationierung taktischer Atomwaffen im benachbarten Weißrussland ab dem 1.7.2023 an, das nach offizieller Darstellung seit längerem darum gebeten habe. Damit änderte Moskau seine Atompolitik grundlegend, denn bisher verblieben die Nuklearwaffen auf russischen Boden. Vladimir Putin rechtfertigte sich mit dem Hinweis auf die USA und ihre NATO-Verbündeten: „Wir tun im Grunde dasselbe, was sie schon seit Jahrzehnten tun“ (ria.ru, 25.3.2023).
♦ Russlands Reaktion hat durch die veränderte Nukleardoktrin nicht nur eine bedrohliche Variante. Parallel dazu lies der Kreml durch seinen stellvertretenden Außenminister Angebote für einen Waffenstillstand verkünden. Nach einem sofortigen Waffenstillstand wäre Russland offen für Friedensverhandlungen. Eine Lösung setze aber, wie vor Kriegsbeginn, u.a. einen „neutralen und blockfreien Status der Ukraine, einen Verzicht auf den NATO- und EU-Beitritt“ voraus (twitter.com, 5.4.2023)
♦ Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ließ durch seinen Berater verkünden, dass auch er zu Gesprächen bereit sei, allerdings erst, wenn die „Gegenoffensive“ zur Rückeroberung der Krim erfolgreich verlaufe (ft.com, 6.4.2023). Am gleichen Tag veröffentlichten Social-Media-Kanäle geheime Dokumente des Pentagons, wonach die USA die Frühjahrsoffensive der Ukraine unterstützen wolle. Die New York Times spricht von einer möglichen russischen Desinformation (nytimes.com, 6.4.2023).
HANDLUNGSOPTIONEN FÜR DEUTSCHLAND GEGEN EINE ATOMARE ESKALATION DES UKRAINE-KRIEGS
♦ Deutschland trägt als NATO-Mitglied eine Mitverantwortung für eine atomare Eskalation des Ukraine-Kriegs. Derzeit zeichnen sich Differenzen im NATO-Bündnis ab. Während Frankreich und die EU zusammen mit China über Friedenslösungen sprechen, liefern die USA und das Vereinigte Königreich Uran-Munition für die geplante ukrainische Frühjahrsoffensive, mit der Kiew die Krim zurückerobern will. Die deutsche Außenpolitik muss sich nun zwischen einer Eskalation und diplomatischen Kompromissen entscheiden.
♦ Eine (atomare) Eskalation des Ukraine-Kriegs kann aus verschiedenen Perspektiven nicht im Interesse Deutschlands liegen. Nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sind bis zum 24.2.2023 insgesamt 1,06 Million Flüchtlingen aus der Ukraine registriert worden (BAMF, 24.2.2023). Nach einer Studie wollen etwa 63 Prozent der Befragten nach Kriegsende zurück in ihre Heimat (BAMF 16.12.2023: 6). Eine ökologische zerstörte Ukraine bietet ihnen und ihren zurückgelassenen Familien keine sichere Zukunft.
♦ Auch der hohe Anteil von 80 Prozent Frauen unter den ukrainischen Flüchtlingen (a.a.O.) spricht für eine diplomatische Lösung des Ukraine-Konflikts. Hier kann sich die feministische Außenpolitik Deutschlands bewähren. In den neuen Leitlinien verspricht das auswärtige Amt, die Rechte von Frauen weltweit zu fördern: „Bei Maßnahmen der Krisenprävention, Stabilisierung und Friedensförderung beziehen wir Frauen und marginalisierte Menschen systematisch ein.“ (auswaertiges-amt.de, 1.3.2023: 29),
♦ Nicht zuletzt muss Deutschland zur Atompolitik der Ukraine kritisch Stellung beziehen. Die Bundesregierung verspielt ihr Vertrauen in der deutschen Bevölkerung: Während ihr steigende Energiekosten abverlangt werden, baut die Ukraine ihre Geschäfte mit US-amerikanischen und kanadischen Energieunternehmen aus. Kiew will zum weltweit größten Produzenten an Atomstrom aufsteigen. In den letzten Monaten hat die Ukraine entsprechende Verträge u.a. mit Westinghouse abgeschlossen (energoatom.com, 28.3.2023).