Volume 6, 2022/4, June 6, 30 pages ♦ pdf-Format
Sabine Riedel
Die Rechte der russischsprachigen Bevölkerung waren und bleiben friedensentscheidend
INHALT:
Die 30 Seiten enthalten:
Analyse, Zusammenfassung,
14 Abbildungen und Quellentexte,
165 Quellen (verlinkt)
Diesem Zitat zufolge hat der Krieg in der Ukraine nicht erst am 24.2.2022 mit der militärischen Intervention Russlands begonnen. Schon acht Jahren schwelt der bewaffnete Konflikt im Osten der Ukraine, im Donezk und Lugansk. OSZE-Berichte beklagten regelmäßig Verletzungen des Waffenstillstands-Abkommens von Minsk, das am 14.2.2015 unter der Schirmherrschaft Russlands, Frankreichs und Deutschlands zustande gekommen war. Danach zerstörten Rebellen wie auch die ukrainischen Regierungstruppen die zivile Infrastruktur. Doch deutsche Medien berichteten kaum über das Leid der ca. 3 Millionen Menschen in der Ostukraine und der 1,5 Millionen Geflüchteten, wie es schon im Jahr 2019 dokumentiert wurde. Bereits vor zwei Jahren zeichnete sich „die größte humanitäre Katastrophe in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg“ ab (Caritas International 2019).
Statt an Friedenskonzepten zu arbeiten, diskutierten deutsche Politiker schon vor Beginn der russischen Invasion über Waffenlieferungen an die Ukraine. Indem sie für eine Seite des Konflikts Partei ergriffen, unterliefen sie jedoch die Minsker Abkommen. Sie schadeten den langjährigen Bemühungen der OSZE-Mission und brachten so die eigene europäische Friedensinitiative zu Fall. Eine solche Kehrtwende ist nur in einem größeren sicherheitspolitischen Kontext zu verstehen, in dem nicht nur Russland, sondern auch einflussreiche NATO-Mitgliedstaaten ihre Interessen durchsetzen wollen. Darüber wird die deutsche und internationale Öffentlichkeit zurzeit völlig im Unwissen gelassen. Ihnen wird Glauben gemacht, dass nur Russland für das Schicksal der Ukraine verantwortlich sei.
Dieser Beitrag ist in seinen Kernaussagen Wochen vor Ausbruch des Krieges veröffentlicht worden (Thema im Fokus 2/2022). Er zeichnet die innerstaatlichen Konfliktlinien nach, die den entscheidenden Anlass zur Eskalation gaben. Die ukrainische Regierung sträubt sich bis heute, der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine den menschenrechtlichen Schutz zu geben, zu denen sie sich als Mitglied der Vereinten Nationen und des Europarats sowie durch die Minsker Abkommen verpflichtet hat.
Deshalb beharren die Separatisten auf ihrer Eigenstaatlichkeit. Die Parallelen zum Kosovo-Krieg Anfang 1999 sind offensichtlich. Doch leisteten die NATO-Staaten damals der albanischen Minderheit militärischen Beistand, während sie heute vorbehaltlos die Zentralregierung in Kiew unterstützen. Ihre militärstrategische Doktrin hat damit eine Kehrtwende um 180 Grad erfahren. Die westlichen demokratiebasierten Werte laufen offensichtlich Gefahr, ins Beliebige abzudriften.
„Andrij Waskowycz: Der Krieg [in Donezk und Lugansk] wird verdrängt, weil man für die Probleme, die dieser Krieg mit sich bringt, keine Lösungen hat. Es fehlt die Vorstellung, wie dieser Krieg beendet werden kann. Und dabei fordert er täglich neue Opfer. Menschen werden durch Beschuss oder durch explodierende Minen getötet. Die Pufferzone, in der die Kriegshandlungen stattfinden, ist die am zweistärksten verminte Region der Welt. Deswegen können die Menschen in der Pufferzone ihr Land nicht bebauen.
Sie leben dort in einem ständigen Ausnahmezustand. Sie haben Schwierigkeiten, ihren Basisbedarf an Nahrungsmitteln und Gesundheitsversorgung zu decken. Die Kinder haben es schwer, eine Schule zu erreichen, sie müssen oftmals weit laufen. Außerdem haben sie sehr viel Gewalt gesehen oder waren tagelang unter Beschuss und haben in Kellergeschossen Bombardierungen miterlebt. …“ (Interview mit dem Präsidenten der Caritas Ukraine, in: Caritas International 2019: 23)
Die Ukrainer täten gut daran, aus ihrer jüngsten Geschichte zu lernen und an eigenen Lösungskonzepten für ihre innerstaatlichen Konflikts zu arbeiten. Wie oben gezeigt, verfolgten sie schon zu Beginn ihrer Eigenstaatlichkeit die Idee einer zweiten Parlamentskammer. Sie sollte den Regionen mehr Mitspracherechte einräumen und ein Gegengewicht zur starken Stellung des Präsidenten bilden. Aufgrund ihrer Erfahrungen mit dem alten Sowjetsystem, überwog die Skepsis gegenüber einem föderalen Modell, dessen Regionalstrukturen nach dem Siedlungsgebiet von Kultur- oder Sprachgemeinschaften zugeschnitten wären.
Dagegen akzeptierte eine Mehrheit der Ukrainer im Referendum vom 16.4.2000 den Vorschlag, ihr Land unabhängig von den kulturellen Identitäten ihrer Einwohner zu dezentralisieren. Aus heutiger Sicht war es ein Fehler, dass Kiew dem politischen Druck des Europarats nachgab und dieses Projekt fallen ließ. Ohne eine solche neue Verfassungsreform zugunsten einer regionalen Selbstverwaltung ist nicht vorstellbar, dass Kiew das Vertrauen der Bevölkerung seiner östlichen Regionen zurückgewinnt.
Aufgabe der Mitgliedstaaten des Europarats und der EU wäre es einzugestehen, die Ukraine in Sachen Verwaltungs- und Sprachenreform falsch beraten zu haben. Anstatt sich in die innerstaatlichen Entwicklungen ihrer Mitgliedstaaten einzumischen, sollten sie dafür Sorge tragen, dass die äußeren Rahmenbedingen für eine demokratische Entwicklung der Ukraine stimmen.
Hierzu gehört der Verzicht auf weitere Polarisierungen und Feindbilder. Angesagt ist zurzeit keine übereilte Mitgliedschaft der Ukraine in EU oder NATO. Vielmehr sind Konzepte gefragt, die in Politik und Wirtschaft überlappende Integrationsräume zulassen, um nicht nur der Ukraine, sondern Mittelost- und Südosteuropa eine prosperierende Entwicklungsperspektive zu geben. [S. 22]