Sabine Riedel
Nationale Divergenzen unter europäischer Flagge
in: SWP-Studie 24, April 2012, Stiftung Wissenschaft und Politik, Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, Berlin, 31.10.2012, 36 Seiten.
Derzeit wird unter Experten die Frage erörtert, ob die Mehrstaatigkeit, also der Besitz zweier oder mehrerer Staatsangehörigkeiten, nicht längst gängige Praxis des Völkerrechts ist und Einwände gegen eine zweite Staatsbürgerschaft somit überhaupt noch ins Gewicht fallen. Doch schon ein kurzer Blick in die Runde der EU-Mitgliedstaaten zeigt, dass nur knapp die Hälfte den Besitz mehrerer Pässe erlaubt. Zudem lässt sich die Bedeutung dieses Themas daran ablesen, dass trotz voranschreitender Integration der Justiz- und Innenpolitik die Kompetenzen zur Vergabe der Staatsbürgerschaft und deren gesetzliche Grundlagen immer noch allein in den Händen der Nationalstaaten liegen.
Diesen ist offenbar bewusst, dass hinter jeder zweiten Staatsbürgerschaft die Gesetzgebung eines anderen souveränen Staates steht, in die man sich im Zweifelsfall nicht einmischen kann. Treten über Fragen der Mehrstaatigkeit bilaterale Spannungen auf, ist selbst auf EU-Ebene der Handlungsspielraum, um diese zu schlichten, äußerst begrenzt, so dass sich ein zwischenstaatliches Konfliktpotential aufbauen und längerfristig sogar verstetigen kann. Eine solche Entwicklung lässt sich derzeit am Beispiel der EU-Mitglieder Ungarn, Slowakei und Rumänien beobachten, deren Auseinandersetzungen um doppelte Staatsbürgerschaften sich überdies erst nach ihrem Beitritt zur Union zugespitzt haben.
Dies wirft gleich mehrere Fragen auf: Weshalb haben europäische Staaten ohne vorherige Konsultation mit ihren Nachbarn Staatsbürgerschaften an Bevölkerungsgruppen in angrenzenden Ländern vergeben? Sie provozierten damit, dass betroffene Doppelstaatler, zum Beispiel die ungarischsprachigen Bürger der Slowakei, unverschuldet in Loyalitätskonflikte mit ihrem Heimatland gerieten. Denn Bratislava wehrte sich gegen die Vergabe von ungarischen Pässen an seine Minderheit und drohte mit dem Entzug des slowakischen Passes. Worin liegt das Motiv einer Außenpolitik, die wie im Falle Ungarns im Nachbarland lebende Minderheiten zu Staatsbürgern erklärt, wenn doch die Einwohner beiderseits der Grenze Unionsbürger sind?
Schließlich: Warum sind diese absehbaren Spannungen nicht schon während des EU-Beitrittsprozesses zur Sprache gekommen Im Nachhinein betrachtet erwiesen sich die im Zuge der EU-Osterweiterung vom Europäischen Rat aufgestellten »Kopenhagener Kriterien« (1993) zur »Achtung und zum Schutz von Minderheiten« als so allgemein formuliert, dass sie unterschiedliche Interpretationen zuließen. Budapest fordert seit 1989 von den Regierungen der Slowakei und Rumänien, dass sie den Minderheitenschutz erhöhen und zum Beispiel ein eigenes ungarisches Schulwesen aufbauen. Die Nachbarländer verweisen dagegen auf bestehende Rechte der Minoritäten, verlangen von diesen aber, dass sie als gleichberechtigte Staatsbürger die Landessprache lernen.
Diesen integrativen Faktor blendet Ungarn aus. Die Regierung in Budapest legt den Akzent stattdessen auf eine von ihr behauptete virtuelle Einheit der ungarischen Nation über die Landesgrenzen hinweg und vergibt ungarische Pässe. Dieses Beispiel hat Schule gemacht: Auch Rumänien und
Bulgarien bieten mehreren Millionen Angehörigen »ihrer« ethnischen Minderheiten im Ausland die Einbürgerung an, ohne dass die Angesprochenen ihren Wohnsitz aufgeben müssten. Das derzeitige Beitrittsland Kroatien verfolgt dieselbe Politik gegenüber Bosnien-Herzegowina.
Dementsprechend hat das Thema doppelte Staatsbürgerschaft den EU-Rahmen längst durchbrochen. Es tangiert inzwischen die Außenbeziehungen der Gemeinschaft zur Republik Moldau, zur Ukraine und zu den Ländern des westlichen Balkans, mit denen die Union über Assoziierungsverträge und Beitrittsperspektiven verhandelt. Das Bewusstsein dafür ist allerdings noch nicht überall vorhanden. So bemängelte zum Beispiel der Fortschrittsbericht 2005 zu Bosnien-Herzegowina die unterentwickelte Staatsbildung dieses Balkanlands, die potentielle Wirkung des kroatischen Staatsangehörigkeitsgesetzes kam darin aber nicht zur Sprache.
Dabei ist es offensichtlich, dass jene bosnischen Staatsbürger, die einen zweiten, kroatischen Pass besitzen, nach dem EU-Beitritt Kroatiens als Unionsbürger durch die Reise- und Niederlassungsfreiheit privilegiert sein werden. Auf diese Weise führt die Mehrstaatigkeit in den Nachbarländern der EU einen Zustand rechtlicher Ungleichheit herbei und verstärkt dort Tendenzen einer gesellschaftlichen Desintegration. Eine solche Entwicklung
kann nicht im Interesse der EU und ihrer Mitgliedstaaten sein.
Alternative Lösungen liegen auf der Hand: Zum einen bieten die Verhandlungen mit den assoziierten Staaten und der »neue Ansatz« der EU-Kommission in den Bereichen Grundrechte, Justiz und innere Angelegenheiten die Möglichkeit, Streitigkeiten über Staatsbürgerschaften aus dem Weg zu räumen und die genannten negativen Wirkungen zu vermeiden. Darüber hinaus sollten die betreffenden EU-Mitglieder mit der Frage konfrontiert werden, ob Staatsangehörigkeitsgesetze, die tendenziell Staatsgrenzen in Zweifel ziehen bzw. ignorieren oder sich auf Rechtsverhältnisse aus der NS-Zeit beziehen, nicht dem Geist der Europäischen Integration zuwiderlaufen.
Schließlich könnte den »Bozener Empfehlungen« (2008) des Hohen Kommissars für nationale Minderheiten der OSZE, Knut Vollebaek, mehr Beachtung geschenkt werden: Darin werden die Mitgliedstaaten dazu aufgerufen, keine zweite Staatsbürgerschaft auf ethnischer Grundlage an Minderheiten im Ausland zu vergeben und solchen Organisationen die Unterstützung zu verweigern, die die territoriale Integrität von Staaten in Frage stellen.