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INHALT:

1    Einleitung 
2    Schottland zwischen Selbstverwaltung und Eigenstaatlichkeit 
      2.1   Argumente der Regionalregierung für Schottlands Unabhängigkeit 
      2.2   Rückblick: Schottland als Teil Großbritanniens seit 1707 
      2.3   Vorschläge der britischen Regierung zum Ausbau der Autonomierechte 
3    Das Vereinigte Königreich zwischen Reform und Zerfall 
      3.1   Kritik der britischen Regierung am Fahrplan in die schottische Unabhängigkeit 
      3.2   Unterschiedliche Stimmen aus der britischen Gesellschaft 
      3.3   Stellungnahmen aus Wales und Nordirland zum schottischen Referendum 
4    Folgen für Europa: Politischer Aufwind für den Separatismus 
      4.1   Der schottische und walisische Separatismus auf Bündnissuche 
      4.2   Die Brüsseler Politik ohne Konzepte gegen den europaweiten Separatismus 
      4.3   Der Separatismus als Gefahr für den Frieden in Europa 
5    Zusammenfassung, Bewertung, Ausblick  

1.

EINLEITUNG:

Derzeit wird die Europäische Union von mehreren Sezessionsforderungen in Atem gehalten. Dabei kann der Spannungsbogen zwischen der Ukraine und dem Vereinigten Königreich nicht größer sein. Wo auf der einen Seite bürgerkriegsähnliche Szenarien den Frieden bedrohen, beherrschen in Großbritannien Argumente die politische Bühne. Dieses Arbeitspapier zeigt auf, dass dies nicht unbedingt so bleiben muss. Auch die britische Gesellschaft muss mit gewaltsamen Auseinandersetzungen rechnen, wenn im Windschatten des schottischen Referendums der Nordirlandkonflikt wieder auszubrechen droht. 

Aber nicht nur dort machen sich separatistische Kräfte Hoffnungen auf eine staatliche Unabhängigkeit. Selbst in Wales, dessen Bevölkerung mehrheitlich fest zu Großbritannien steht, gibt es entsprechende Forderungen. Ausgehend von der Analyse offizieller Dokumente werden in einem ersten Kapitel die zentralen Forderungen der schottischen Regionalregierung vorgestellt und anschließend im politischen Gesamtkontext betrachtet. Denn es stellt sich die Frage, wie es überhaupt zu solchen separatistischen Forderungen kommen konnte, da das Vereinigte Königreich erst vor rund 15 Jahren einen Dezentralisierungsprozess auf den Weg gebracht hat, der bis heute unter der englischen Fachbezeichnung Devolution anhält. 

Ziel war es, über eine Stärkung der Selbstverwaltung auf kommunaler und regionaler Ebene mehr Bürgerbeteiligung zu erreichen und somit auch die
politischen und sozialen Kohäsionskräfte auf gesamtstaatlicher Ebene zu stärken. Einer der Gründe für die derzeitige Aktualität separatistischer Forderungen ist die Vernetzung von Regionalparteien aus EU-Mitgliedstaaten auf europäischer Ebene, zu der die Schottische Nationalpartei (SNP) und die walisische Plaid Cymru gehören. 

Ein zentrales Anliegen der vorliegenden Untersuchung ist daher die Einordnung der aktuellen Entwicklungen in Großbritannien in die europäische Debatte um die zukünftige Gestaltung der Europäischen Union. Sie möchte eine Auseinandersetzung mit Europakonzepten anregen, die die politische Landkarte der Europäischen Union verändern wollen, indem sie europäische Regionen unter Rückbezug auf kulturelle Werte zu eigenständigen Nationalstaaten machen. […]

5.

ZUSAMMENFASSUNG, BEWERTUNG, AUSBLICK

Die Schottische Nationalpartei (SNP) ist als Initiatorin des Unabhängigkeitsreferendums mit der bisherigen Dezentralisierung unzufrieden, die kurz nach dem Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft (1973) angestoßen worden war. Dabei erscheint dem außenstehenden Beobachter erklärungsbedürftig, warum Kritik an den neuen Autonomierechten von den Eliten Schottlands kommt, nicht dagegen von den Engländer, die über kein eigenes Regionalparlament verfügen. Ganz offensichtlich hat diese Asymmetrie des britischen Föderalismus separatistische Kräfte in den Regionen gefördert. Diese lehnen heute selbst Angebote zu einem weiteren Ausbau ihrer Selbstverwaltung ab, die sowohl von Labour als auch von den Konservativen und Liberalen unterstützt werden. 

Eine Reihe britische Politiker quer durch alle Parteien ist daher der Meinung, dass der Separatismus auf der politischen Agenda bleiben wird, selbst wenn sich eine Mehrheit der Schotten für einen Verbleib im Vereinigten Königreich ausspricht. Sie sehen einen Lösungsansatz in einer Föderalismusreform, in die England einzubeziehen wäre. Im Verlauf der öffentlichen Debatten über das Pro und Contra einer schottischen Eigenstaatlichkeit trat ein grundsätzlicher Widerspruch zu Tage, der den Ersten Minister der schottischen Regionalregierung während des jüngsten Fernsehduells in Bedrängnis brachte. Denn Alex Salmond übernahm die Empfehlung einer internationalen Kommission aus Wirtschaftsexperten, dass ein unabhängiges Schottland das Pfund Sterling als nationale Währung behalten sollte.

Die britische Regierung steht dagegen auf dem Standpunkt, dass Schottland mit dem Austritt aus der politischen Union auch den Währungsraum als gleichberechtigtes Mitglied verlassen müsse. Man wolle den Fehler des Euro vermeiden und keine Währungsunion ohne Fiskalunion errichten. Damit steht Edinburgh vor dem Problem, im Falle einer staatlichen Unabhängigkeit zwar über einen eigenen Haushalt zu verfügen, aber in Währungsfragen vom Wohlwollen anderer abhängig zu sein, entweder von London oder möglicherweise von Brüssel, sollte der Betritt zum Euroraum als Alternative in Betracht kommen.Da Schottland EU-Mitglied bleiben möchte, wäre diese Option sogar wahrscheinlich.

Für die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten ist das schottische Referendum jedoch eine besonders große Herausforderung. Denn auch wenn die in Schottland regierende SNP trotz ihres Separatismus einen pro-europäischen Kurs fährt, so ist in deren konkreten politischen Forderungen keine europäische Solidarität zu erkennen. Warum sollten sie dazu bereit sein, als neues EU-Mitglied auf den bisherigen „BritenRabatt“ zu verzichten und als Nettozahler zukünftig mehr in die Gemeinschaft einzubringen?

Schließlich lautet das Hauptargument für die Eigenstaatlichkeit, dass sie ihren Wohlstand und ihre natürlichen Ressourcen nicht mehr mit den
übrigen Briten teilen wollen, mit denen sie seit dreihundert Jahren in einer politischen Gemeinschaft leben. Im Gegenteil wollen sie vom Austritt aus Großbritannien wirtschaftlich profitieren und wohlhabender werden. Eine besonders große Herausforderung für die EU-Mitgliedstaaten ist jedoch die Ideologie, mit der die SNP ihre Eigenstaatlichkeit begründet.

Mit über 35 weiteren Regionalparteien teilt sie die Doktrin eines „demokratischen Nationalismus“, den sie als „progressiv“ etikettieren. Auf dieser ideologischen Grundlage haben sie sich zur Europäischen Freien Allianz (EFA), einer mittlerweile anerkannten europäischen Partei  zusammengeschlossen. Derzeit entsenden sie sieben Abgeordnete ins europäische Parlament, darunter zwei aus Schottland (SNP) und einen
Vertreter aus Wales (Plaid Cymru). Dort propagieren sie ein neues Europakonzept, demzufolge alle Kultur- und Sprachgemeinschaften den Status einer politischen „Nation“ und das Recht auf Eigenstaatlichkeit erhalten sollten.

Mit dieser Doktrin stellt die SNP und mit ihr das Parteiennetzwerk der EFA die Existenz sämtlicher politischer Willensnationen in Europa in Frage. Sie weichen damit ein wichtiges Fundament des modernen Völkerrechts auf, nämlich die territoriale Unversehrtheit von Staaten. Da auch der EU-Vertrag auf diesem Prinzip beruht, rüttelt der schottische Separatismus mit seinem Referendum letztlich auch an der heutigen europäischen Friedensordnung. Die EU-Mitgliedstaaten sollten hierauf gemeinsam eine Antwort finden und ihre politischen Willensnationen durch Selbstverwaltungsorgane und föderale Strukturen stärken. 

Denn es wäre leichtsinnig anzunehmen, dass die Sezessionsprozesse entlang ethnischer und kultureller Grenzen innerhalb der EU friedlich verlaufen, während sie sich im europäischen Nachbarschaftsraum gewaltsam entladen. Vielmehr sollte man die Gefahr von Rückwirkungen rechtzeitig erkennen und ihnen mit politischen Instrumenten entgegentreten.