Sabine Riedel
Demokratien in Zeiten globaler Umbrüche
Inhalt:
1. Einleitung
2. Europa zwischen Kulturkämpfen und Kulturaustausch
2.1. Griechenland als Wiege der europäischen Kultur?
2.2. Europas Kulturnationen auf Kriegskurs
2.3. Zivilgesellschaften für ein friedliches Europa
2.4. Kultur als Herrschaftsinstrument der NS-Diktatur
2.5. Kultur im Dienst der Diktaturen des 20. Jahrhunderts
2.6. Stimmen aus der Wissenschaft gegen Nationalismus und Krieg
3. Europas Demokratien im kulturellen Wandel
3.1. Der demokratische Rechtsstaat als Kulturleistung
3.2. Osteuropa von der kulturellen Wende zum Kulturbruch
3.3. Die EU-Osterweiterung in Zeiten kultureller Umbrüche
3.4. Neue nationale Feindbilder trotz EU-Integration
3.5. Europakonzepte des Nationalismus und Separatismus
3.6. Alternativen zu heutigen imperialen Europamodellen
4. Die kulturelle Dimension europäischer Außenpolitiken
4.1. Osteuropas Nationen im Bann des Kulturparadigmas
4.2. Die Türkei zwischen Europäisierung und Islamisierung
4.3. Europa im Abseits des Arabischen Frühlings
4.4. Die Zukunft Russlands als europäischer Akteur
4.5. China – USA – EU: Wirtschaftskulturen im globalen Wandel
4.6. Die Konvergenztheorie als sozialwissenschaftlicher Ansatz
5. Anhang: Zeittafel, Stichwortverzeichnis, Personenverzeichnis, Verzeichnis der Organisationen, Parteien, Bewegungen
Schon seit einem Jahrzehnt diskutieren Sozialwissenschaftler über ein neues Europa-Konzept jenseits der bestehenden Nationalstaaten und zugunsten eines europäischen Bundestaates. „In diesem Sinne geht es letztlich um etwas völlig Neues in der Geschichte der Menschheit, nämlich um die Zukunftsvision eines Staatengebildes, das nach innen und nach außen die Anerkennung des kulturell Anderen zu seiner Grundlage macht.“ 1)
Auch wenn dieses Zitat vielversprechend klingt, so bemüht es doch einen Kulturbegriff aus dem 19. Jahrhundert. Schon damals betrachteten die adeligen Eliten der Monarchien Kulturgemeinschaften als stabile soziale (Sub-)Systeme, weil damit ihre begrenzten Vertretungsrechte in vormodernen Proporzsystemen legitimiert wurden. Deshalb könnte die Aussage „Vielfalt ist kein Problem, sondern die Lösung“ genauso gut aus dem Mund eines Beamten oder Wissenschaftlers des Osmanischen Reichs oder der Habsburgermonarchie stammen. Beck selbst bringt sogar zur Erklärung seines Europakonzepts den Begriff eines „postimperialen Empires des Konsens und des Rechts“ in Spiel (a.a.O.).
Damit verleiht er seinem Modell einen modernen Anstrich, schließlich will er den Kosmopolitismus nicht als kulturelle Ab- und Ausgrenzung, sondern als eine Verflechtung kultureller Identitäten verstanden wissen. Auch hier lässt sich einwenden, dass bereits die herrschenden Adelshäuser des vordemokratischen Europas kosmopolitisch im Sinne Becks waren: Sie beherrschten mehre Sprachen schon allein infolge ihrer Heirats- und Machtpolitik. Diese europäische Erfahrung zeigt uns, dass eine engere Verflechtung europäischer Staaten allein keine Garantie für einen stabilen und dauerhaften Frieden sein kann.
Deshalb ist die Kritik des Briten John A. Hobson, die er schon vor mehr als 100 Jahren an Imperien und deren imperialistischer Herrschaft äußerte, auch heute noch ernst zu nehmen. Den Kosmopolitismus sah er bereits damals als Gegenstück zum aufkommenden Internationalismus, weil dieser nicht dem Prinzip der Gleichheit der Nationen folgte, sondern eine Hierarchisierung nach dem Recht des Stärkeren anstrebte. 2)
Hobsons Analyse hat nichts an Aktualität verloren, denn vieles deutet daraufhin, dass sich auch ein modernes kosmopolitisches Europa allmählich vom Prinzip der Rechtsgleichheit seiner EU-Bürger verabschiedet und stattdessen eine Hierarchisierung unterschiedlicher Rechtssphären in Gang bringt. So versprach der Europäische Rat der EU-Staats- und Regierungschefs mit dem Haager Programms (2004) einen einheitlichen europäischen Rechtsraum, doch ist die tatsächliche Rechtslage der Unionsbürger je nach Herkunftsland seitdem noch komplexer und infolge unterschiedlicher Rechtsauslegungen unsicherer geworden.
Des Weiteren scheint sich die Tendenz zu verstärken, dass die Zugehörigkeit zu politischen oder sozialen Netzwerken mehr und mehr über den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen entscheidet. Diese kommt nicht zuletzt durch die aktuellen Sezessionsforderungen einzelner Regionalparlamente zum Ausdruck, die wie im Falle von Schottland, Katalonien oder Flandern auf dem Weg einer kulturellen Ausdifferenzierung ihrer nationalen und regionalen Bevölkerung durchgesetzt werden soll. […]
1) Beck, Ulrich. 2005. Das kosmopolitische Empire. Ein Plädoyer für ein Europa jenseits des Nationalstaats. In Internationale Politik, Juli 2005, 6-12, 12
2) Hobson, John A. 1968. Der Imperialismus. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Englischer Originaltitel: Imperialism. A Study, 1902, 5. Auflage 1954. London: Allen & Unwin.