Sabine Riedel
Föderalisierung – Autonomien – Dezentralisierung
in: Europäisches Zentrum für Föderalismus–Forschung Tübingen (EZFF, Hg.), Jahrbuch des Föderalismus 2019. Föderalismus, Subsidiarität und Regionen in Europa, Baden–Baden 2019, S. 187–201.
Seit dem Arabischen Frühling im Jahre 2011 mehren sich in den Ländern des Mittleren und Nahen Ostens und Nordafrikas (MENA-Region) öffentliche Diskurse über eine Dezentralisierung ihrer politischen Systeme sowie über weitergehende Formen der Selbstverwaltung wie der Territorialautonomie. Doch diese angestoßenen Entwicklungen werden von der westlichen Forschung heute eher kritisch beurteilt. In Europa bzw. Deutschland ziehen viele Wissenschaftler eine nüchterne Bilanz und behaupten, dass die Hoffnungen auf eine „politische Zeitenwende“ vorerst gescheitert seien.
Manche sprechen sogar von einem „arabischen Winter“, weil entweder ganze Staaten zerstört worden seien, wie Libyen, Syrien und der Jemen, oder sich autoritäre Herrschaftsstrukturen konsolidiert hätten, wie etwa in Tunesien, Ägypten und Jordanien. Nur wenige Autoren berücksichtigen in ihren Analysen die Verantwortung externer Akteure dafür, dass sich die innerstaatlichen Konflikte der MENA-Region nach den zunächst friedlichen Umbrüchen gewaltsam zuspitzten. Einige westliche Staaten, unter anderem die USA und Frankreich, aber auch die Türkei und Russland sind durch Militärinterventionen selbst zu Konfliktparteien geworden.
Zusammen mit lokalen Akteuren verfolgen sie in der Region auch eigene Interessen, so dass die Konfliktlagen noch komplexer geworden sind. Doch schon vor 2011 übte die internationale Gemeinschaft Einfluss auf deren politische Systeme aus. So empfahl im Jahre 2006 die Hochrangige Gruppe der UN-Initiative für eine Allianz der Zivilisationen (United Nations Alliance of Civilizations, UNAOC), „den politischen Pluralismus in den muslimischen Ländern“ zu fördern. Darunter verstanden sie unter anderem „die Partizipation gewaltfreier politischer Parteien, ob religiöser oder weltlicher Natur“.* Deshalb konnten die gut organisierten islamistischen Parteien die Massenproteste ab 2011 so erfolgreich für sich vereinnahmen.
Zu jeder Analyse von Reformvorhaben in der MENA-Region gehört daher eine Berücksichtigung des internationalen Umfelds. Dies gilt insbesondere für das Thema Dezentralisierung, weil die ehemaligen europäischen Kolonialmächte bei der Geburt der heutigen arabischen Staatenwelt Pate standen. Sämtliche politischen Ideen und Ideologien, die von Europa ausgingen, fanden Eingang in deren politischen Systeme, ob der Monarchismus, Republikanismus, Nationalismus, Autoritarismus und Sozialismus oder die Demokratie.
Dies hatte direkte Auswirkungen auf ihre innere Verfasstheit bzw. ihre Verwaltungsstrukturen, die vergleichbar mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) überwiegend zentralstaatlich angelegt sind und nur begrenzt Erfahrungen mit föderalen Systemen gemacht haben. Große Unterschiede zeigen sich dagegen beim Thema Territorialautonomie. Die Hintergründe hierzu möchte dieser Beitrag anhand des Vergleichs konkreter Länderbeispiele aufzeigen und erklären. Dabei soll berücksichtigt werden, wie die Reformangebote seitens der Regierungen sowie Forderungen oppositioneller regionaler Akteure nach mehr Selbstverwaltungsrechten diskutiert werden.
* UNAOC 2006: Alliance of Civilizations, Report of the High-level Group, 13.11.2006, S. 19, United
Nations, New York, 2006. www.unaoc.org/docs/AoC_HLG_REPORT_EN.pdf (01.06.2019).
Wie in der politischen Ideengeschichte insgesamt, so spielen auch in der arabisch-sprachigen bzw. islamisch geprägten Staatenwelt die begrifflichen Hintergründe eine zentrale Rolle. Denn die potentielle Mehrdeutigkeit politischer bzw. politologischer Termini birgt die Gefahr von Missverständnissen oder interessengeleiteten Interpretationen, aus denen Konflikte erwachsen können. Daher steht eine Klärung der relevanten Begriffe nicht nur am Anfang jeder vertraglichen Vereinbarung, sie
ist darüber hinaus eine Grundvoraussetzung für die Lösung gesellschaftlicher Konflikte. In diesem Kapitel werden einige Fachbegriffe vorgestellt und diskutiert, die für die Themen Föderalisierung, Autonomie und Dezentralisierung relevant sind.
Die territoriale Selbstverwaltung eines unabhängigen Staates wird im modernen Völkerrecht als „Souveränität“ (engl. sovereignty, dt. „Hoheit“, ar. سيادة– siyāda) bezeichnet und beinhaltet das Recht auf Selbstbestimmung. Doch wer ist Träger dieses Selbstbestimmungsrechts? Nach dem heute geltenden internationalen Recht sind dies ausschließlich „Nationen“ (engl. nation, arb. أمة – ʾumma) und keine beliebigen Bevölkerungsgruppen.
Aus diesem Grund wird in vielen Regionalkonflikten über die Auslegung dieses Begriffs gestritten. Repräsentanten von separatistischen Bewegungen fordern für ihre jeweilige ethnische, kulturelle oder religiöse Minderheit (engl. minority, ar. أقلية – ʾaqallīya) zunächst die Anerkennung als „Nation“. Hieraus leiten sie das Recht auf Selbstbestimmung und Anerkennung ihres geforderten, neuen „Nationalstaates“ ab. Diese Argumentationskette findet man bei allen separatistischen Bewegungen, nicht nur in Europa, sondern weltweit und somit auch in der MENA-Region. […]