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Sabine Riedel

Kompromisslos, aber proeuropäisch? 

in: Hrbek, Martin Große Hüttmann, Carmen Thamm (Hrsg.), Autonomieforderungen und Sezessionsbestrebungen in Europa und der Welt. Beweggründe – Entwicklungen – Perspektiven, 2020 Baden-Baden, S. 76-91

EINLEITUNG

In diesem Beitrag geht es um die Motive der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung und um die Frage, warum deren Forderung nach einem unabhängigen Staat derzeit in Europa so populär werden konnte. Die Hoffnungen separatistischer Parteien auf eine politische Unterstützung durch Institutionen der Europäischen Union (EU) lassen sich nämlich kaum erfüllen, weil sie deren Grundsätzen widersprechen. Denn die Mitgliedstaaten eint das Ziel einer politischen und wirtschaftlichen Integration zur „Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“. 

In Artikel 3 des EU-Vertrags heißt es weiter: Die Union „fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“. Strittig ist unter den EU-Mitgliedern, von welcher Art diese Integration sein soll, ob die bestehenden nationalstaatlichen Grenzen durchlässiger oder gar überflüssig werden sollen. Unabhängig davon, bis wohin die Vertiefung der EU zukünftig führen wird, steht die heutige politische Agenda der EU separatistischen Bestrebungen nach einer staatlichen Desintegration diametral entgegen. Denn jede Sezession zielt auf eine Auflösung von Staaten, deren Gesellschaften bereits über Jahrhunderte politisch und wirtschaftlich zusammengewachsen und zum Großteil integriert sind.

Daher stehen jene Vertreter von Unabhängigkeitsbewegungen, die im Mai 2019 ins Europäische Parlament gewählt worden sind, vor einer Entscheidung: Entweder sie werden zu geläuterten Anhängern der europäischen Integration und geben ihre Sezessionspläne auf, oder aber sie streben nach einer solchen Veränderung des politischen Systems der EU, die sie ihrem Ziel einer territorialen Abspaltung und Staatsgründung näherbringt. Im letzteren Fall würden sich die bereits deutlich sichtbaren Sezessionskonflikte in Katalonien, Schottland und Nordirland europäisieren und somit alle EU-Mitgliedstaaten unmittelbar tangieren.

Um diese Wechselwirkungen zwischen der regionalen, nationalen und supranationalen Ebene am Beispiel des Katalonien-Konflikts herauszuarbeiten, werden die drei thematischen Schwer-punkte dieses Sammelbands zu den Beweggründen, Entwicklungen und Perspektiven des Konflikts nacheinander behandelt und jeweils unter zwei Aspekten ausgeleuchtet. Einerseits interessiert das unmittelbare Spannungsverhältnis zwischen der regionalen und der zentralstaatlichen Ebene, andererseits aber auch der Kontext auf europäischer und internationaler Ebene, in dem der Regionalkonflikt eingebettet ist. 

Wie im Folgenden gezeigt wird, können diese Rahmenbedingungen einen entscheidenden Einfluss darauf nehmen, ob es zu einer einvernehmlichen Lösung oder aber zu einer weiteren Eskalation kommen wird. Allerdings liegt die letzte Entscheidung dar-über in der Hand der beteiligten Konfliktparteien selbst. Beide Seiten müssen sich aktiv um eine Verständigung und Aussöhnung bemühen, nicht nur um den innergesellschaftlichen Frieden wiederherzustellen, sondern auch um die heutige europäische Friedensordnung zu erhalten. […]

KATALONIENS PERSPEKTIVEN IN DER EU

Die ultimative Forderung der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung bleibt die Proklamation eines souveränen katalanischen Staates. Zu diesem Zweck wurde im Jahre 2012 die Katalanische Nationalversammlung (Assemblea Nacional Catalana, ANC) als eine Art Parallelorgan zum Regionalparlament der autonomen Gemeinschaft eingerichtet. Sie mobilisiert durch Großveranstaltungen die Zivilgesellschaft, um den politischen Druck auf die Regionalregierung zu erhöhen. Auch wenn ihr Einfluss stetig gewachsen ist, wagte sich bisher kein katalanischer Präsident, Katalonien endgültig von Spanien loszusagen, auch Carles Puigdemont nicht. Selbst die beiden Proklamationen in den Jahren 1931 und 1934 bezogen sich auf einen katalanischen Staat im Rahmen einer „föderalen spanischen Republik“ bzw. eines spanischen Bundestaates. Damit blieben sie eine innerspanische Angelegenheit.

Im Gegensatz zu diesen historischen Vorbildern will die ANC Spanien ganz den Rücken kehren. Sie stützt sich auf das Völkerrecht und reklamiert für Katalonien das Recht auf Selbstbestimmung. Doch die entscheidende Frage ist zum einen, ob den Katalanen dieses Recht überhaupt zusteht, schließlich haben sie umfassende Autonomierechte, und zum anderen, ob eine Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten einen unabhängigen Staat anerkennen würde. Die Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft auf die Unabhängigkeitserklärung vom 1.10.2017 war jedoch eindeutig. Keine europäische Regierung solidarisierte sich mit ihnen, selbst das Kosovo nicht, das seit seiner Unabhängigkeitserklärung am 17.2.2008 um seine internationale Anerkennung kämpft: Zwölf Jahre später haben noch immer 40 Prozent der UN-Mitglieder und fünf von 28 EU-Mitgliedern dagegen große Vorbehalte. […]