Sabine Riedel
Großbritannien droht der Staatszerfall – Hintergründe und Auswege
Schon vor dem britischen EU-[Brexit-]Referendum vom 23. Juni 2016 haben sich nationalistische Parteien der autonomen Regionen des Vereinigten Königreichs dafür stark gemacht, dass diese in der EU bleiben. Dabei verschwiegen sie ihren Wählern nicht, dass ihnen der Brexit auch Vorteile bringt: Die Schottische Nationalpartei fordert ein zweites schottisches Unabhängigkeitsreferendum, die nordirischen Nationalisten streben nach einer Abstimmung über die Vereinigung mit der Republik Irland. Um ihre »nationale« Agenda voranzutreiben, verbünden sich die Nationalisten dieser beiden Regionen ausgerechnet mit jenen Europapolitikern, die den Brexit für eine Vertiefung oder Zentralisierung der EU nutzen wollen.
Deshalb drängen sie die britische Regierung, möglichst rasch einen Austrittsantrag nach Artikel 50 des EU-Vertrags zu stellen. Doch die neue Premierministerin Theresa May erklärte überraschend die staatliche Einheit des Vereinigten Königreichs zur obersten Priorität. Solange mit Schotten und Nordiren kein Einvernehmen über die Modalitäten eines EU-Austritts hergestellt sei, werde die britische Regierung ihn auch nicht beantragen. Es liegt im Interesse der EU und vor allem Deutschlands, May in dieser Haltung zu bestärken. Der Brexit sollte nicht zum Experimentierfeld für neue Europakonzepte werden.
Die Abstimmung vom 23. Juni 2016 über den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union war ein großes Wagnis. Den britischen Premier David Cameron hat es die Macht gekostet. Dabei hatte gerade er den Kampf gegen populistische Versprechen aufgenommen und die Bürger zu seinem proeuropäischen Kurs befragt. Wäre die junge Generation, die der EU gegenüber eher positiv eingestellt ist, ebenso zahlreich an die Wahlurnen gegangen wie die älteren britischen Bürger, hätte seine Politik die erwartete Legitimation bekommen.
Nach dem knappen Ergebnis mit 52 Prozent für einen EU-Austritt steht das Vereinigte Königreich innenpolitisch vor einem schwierigen Konsultationsprozess. Bei ihrem Amtsantritt stellte die neue Premierministerin Theresa May klar: Solange ihre Regierung sich mit den autonomen Regionen Wales, Schottland und Nordirland nicht einig über die Bedingungen eines Brexit sei, werde sie keinen Austrittsantrag nach Artikel 50 des EU-Vertrags stellen. Denn Schotten und Nordiren wollen sich dem Votum widersetzen und drohen für den Fall eines EU-Austritts mit Sezession. […]
Der Frieden in Nordirland war offenbar schon vor dem EU-Referendum brüchig, weil sich das nationalistische Lager mit Selbstverwaltungsrechten nicht mehr begnügt. Dabei verkennt es die Bedeutung seines Autonomiemodells für das gesamte Vereinigte Königreich: Ab Mitte der 1990er Jahre forcierte die Labour Party eine landesweite Dezentralisierung (Devolution). Mit der Einführung von Regionalparlamenten wollte sie nicht nur den Nordirlandkonflikt entschärfen, sondern auch Schotten und Walisern politische Entscheidungsrechte übertragen. Nach regionalen Referenden in
den Jahren 1998 und 1999 erhielten diese verschiedenen Autonomiestatuten die entsprechende Rechtsgrundlage.
Doch schon bald traten die Konstruktionsmängel dieses Konzepts zutage. So erzeugt es unweigerlich rechtliche Asymmetrien, da die Autonomierechte auf Verträgen zwischen den jeweiligen Regionen und der Zentralregierung beruhen. Die Schotten etwa erwiesen sich als die geschickteren Verhandlungsführer, weil sie im Gegensatz zu Nordiren und Walisern ihren Vertrag, den Scotland Act (1998), schon zweimal zu ihren Gunsten reformieren konnten (2012, 2016).
Infolge dieser Dynamik wuchs in England allmählich der Unmut darüber, dass dort keine Selbstverwaltungsstrukturen in Form eigener Parlamente eingeführt wurden. Dabei haben sieben der neun englischen Regionen jeweils mehr Einwohner als Schottland, Wales oder Nordirland. Für diesen Stillstand tragen die Engländer jedoch große Mitverantwortung, weil sie der Devolution bislang skeptisch gegenüberstehen. Auch in England wurden schon 1999 Regionalversammlungen etabliert, deren Mitglieder allerdings nicht aus Wahlen hervorgingen.
Dies war wohl einer der Gründe, warum sie von der Bevölkerung nicht angenommen und schließlich 2009/10 aufgelöst wurden. Im Jahre 2004 gab es in der Region North East England einen letzten Rettungsversuch, als die Bevölkerung zu dem Thema befragt wurde. Doch rund 78 Prozent stimmten gegen eine Regionalversammlung ohne demokratische Vertretungsrechte (BBC, 5.11.2004). Daraufhin wurden ähnliche Referenden in North West England sowie in Yorkshire and the Humber abgesagt. […]