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Volume 6, 2022/10, Dec 30, 46 pages  ♦  pdf-Format

Sabine Riedel

ATOMGESCHÄFTE UND ATOMWAFFEN IM UKRAINE-KRIEG

Eine kommentierte Dokumentation zum militärischen Konflikt um das AKW Saporischschja

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INHALT:

Gesamtverzeichnis FPK/CPI

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Die 46 Seiten enthalten:
Dokumentation mit 24 Abbildungen und Quellen (verlinkt) mit Zitaten

EINLEITUNG

Die Berichterstattung über den Ukraine-Krieg präsentiert uns das Bild einer Duell-Situation, zwischen einem demokratisch gesinnten und einem machtversessenen Staatspräsidenten. Konfliktursachen und internationale Kontexte werden ebenso ausgeblendet wie die kriegstreibenden Wirtschaftsinteressen. Diese Dokumentation will die Informationslücke füllen und zu einer Neubewertung der aktuellen Kriegssituation beitragen: Russlands völkerrechtswidrige Militärintervention gründet auf dem Vorwurf, die Ukraine betreibe eine Dual-Use-Forschung an Massenvernichtungswaffen, u.a. an Atomwaffen. Gesichert ist, dass Kiew die Kontrolle über sein Nuklearmaterial entglitten ist und in der Sperrzone um die Atomruine von Tschernobyl geforscht wird. Zudem ist das Endlager, das mit EU-Geldern zum Schutz des havarierten Reaktors errichtet wurde, zur größten radioaktiven Müllhalde der Welt umfunktioniert worden.

Bisher war Russland Uranlieferant und Abnehmer der abgelaufenen Brennstoffe. Die Ukraine möchte aber seit 2014 mit Hilfe der US-Unter­nehmen Westinghouse, Holtec und Krediten von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) größter Atomstrom-Produzent der Welt werden. Moskau durchkreuzte diese Pläne mit der militärischen Besetzung und Inbesitznahme des AKW Saporischschja. Doch dadurch eskalierte der Konflikt bis an die Schwelle eines Atomkriegs: Der ukrainische Energiekonzern Energoatom hat wiederholt zu dessen gewaltsamer Rückeroberung aufgerufen. Seit Anfang August soll es ca. 300 Granateneinschüsse auf dem AKW-Gelände gegeben haben. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) feiert derweil die weltweite Rückkehr der „sauberen“ Atomenergie. [S. 1 …]

Andrei Sacharow:

„Der Atomkrieg kann durch einen gewöhnlichen Krieg entstehen. Der Letztere entsteht bekanntlich durch die Politik.“

(de.rbth.com)

Nach offizieller Lesart wurde der Ukraine-Krieg durch die russische Anerkennung der ostukrainischen Re­gionen Donezk und Lugansk ausgelöst. Doch erklärt dies allein nicht, warum die Atomruine von Tschernobyl und das AKW Saporischschja, die größte Atomanlage Europas, zu den prioritären Zielen der russischen Militärokkupation gehörten. Moskau ging mit deren Eroberung Ende Februar 2022 große Sicherheitsrisiken ein, darunter auch das eines Atomunfalls mit unmittelbaren Folgen für das eigene Staatsgebiet. Der russische Vorwurf, Kiew forsche dort im Verborgenen an Atomwaffen, ist die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) bis heute nicht hinreichend nachgegangen. Fest steht dagegen, dass die Reaktoren 1-5 des AKW Saporischschja unmittelbar nach ihrer Okkupation heruntergefahren wurden. Ihre Laufzeit hätte bereits 2015/2020 enden müssen, wurde aber nach einem Stresstest bis 2025/2028 verlängert. Block 6 diente anfangs der Eigenversorgung der Kernanlage, bis dieser aus Sicherheitsgründen ebenso vom Netz ging.

Denn am 10.7.2022 rief das ukrainische Unternehmen Energoatom erstmals das eigene Militär zur gewaltsamen Rückeroberung seines AKWs auf. Offiziell macht es Russland für die Granateneinschüsse in unmittelbarer Nähe zu den Kernreaktoren verantwortlich. Die westliche Presse übernahm dieses Narrativ von Anfang an, ohne die Anschuldigungen des russischen Verteidigungsministeriums zu prüfen, möglicherweise, um die Mittäterschaft von NATO und EU zu vertuschen. Denn der Beschuss von Atomanlagen ist völkerrechtlich betrachtet ein absolutes No-go, selbst im Verteidigungsfall. Damit haben die westlichen Regierungen große Schuld auf sich geladen, die nach Ende des Ukraine-Kriegs in die Gesamtbilanz einfließen wird. Falls es aber zu einem Atomunfall in Saporischschja kommt, wird dies biologische und ökologische Schäden unvorstellbaren Ausmaßes für Europa haben. Die offene militärische Unterstützung der EU zugunsten der Ukraine lässt sich weder mit dem Klimaschutz noch der Energiewende vereinbaren. Vielmehr zeigt sich: Der Umweltschutz erfordert eine aktive Friedenspolitik. [S. 21 …]

Dieser Teil der Dokumentation verweist auf Diskurse über eine Friedensordnung, die zum Ende des Ukraine-Kriegs beitragen könnte. Ist es reiner Zufall, dass die Gefahr einer nuklearen Konfrontation der Atommächte genau in die Zeit fällt, in der die weltweite Ächtung der Atomwaffen einen Etappensieg errungen hat? Anfang 2021 wurde der Atomwaffenverbotsvertrag (TPNW/AVV) Teil des Völkerrechts: Eine Mehrheit der UN-Mitglieder hatten diesen globalen Abrüstungsprozess 2017 in Gang gebracht, der sowohl den Einsatz als auch die Produktion und Stationierung von Atomwaffen verbietet. Die Atommächte und ihre Verbündeten, deren nationale Sicherheit auf der Doktrin der nuklearen Abschreckung basiert, begegnen dieser Initiative mit Ablehnung, Ignoranz und Widerstand. Denn die 91 Unterzeichnerstaaten bilden ein starkes Gegengewicht, weil sie das humanitäre Völkerrecht auf ihrer Seite wissen, das weit über den AVV hinausgeht.

Falls der anhaltende Granatenbeschuss auf das ukrainisch AKW Saporischschja einen Atomunfall ausgelöst, wird sich neben Russland auch die ukrainische Regierung vor internationalen Gerichten wegen der gewaltsamen Rückeroberung ihres AKW verantworten müssen. Selbst Deutschland könnte mit unangenehmen Fragen konfrontiert werden: Seine nukleare Teilhabe im Rahmen des NATO-Bündnisses, d.h. die Stationierung und begrenzte Verfügungsgewalt über amerikanische Atomwaffen, verstößt nicht nur gegen den Atomwaffensperrvertrag (1968), sondern auch gegen Artikel 3 des 2+4-Vertrags (1990) zur Wiedervereinigung. Schließlich wirft die enge Zusammenarbeit von EU-Institutionen mit ukrainischen Forschungslaboren und AKWs die Frage auf, ob die dortige Atomforschung tatsächlich, wie Moskau behauptet, eine Dual-Use-Forschung betreibt. Hinter dem EU-Beschluss, die Atomenergie zur „sauberen“ und „umweltfreundlichen“ Energie zu machen, stehen vielmehr knallharte sicherheitspolitische Interessen. [S. 43 …]