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EINLEITUNG:

Seit geraumer Zeit häufen sich innerhalb der Europäischen Union Streitigkeiten um nationale Identitäten. Sie sind das Resultat einer Tabuisierung von Problemen der Europäischen Integration, was einen Verlust an politischen Werten und sozialer Kohäsion nach sich zieht. Nutznießer dieser Entwicklungen sind Parteien mit einer nationalistischen oder/und  separatistischen Agenda. Sie projizieren in diese Vertrauenslücke ihr Nationsverständnis, das aus der kulturellen Diversität nationale Differenzen ableitet und damit Konflikte anheizt. Eine Antwort hierauf kann nur heißen: Stärkung der Selbstverantwortung der demokratisch verfassten Mitgliedstaaten und deren Willensnationen als Grundpfeiler der europäischen Friedensordnung.

1.

NATIONALE IDENTITÄTEN IM SOG PARTIKULARER INTERESSEN

Ein Streit um nationale Identitäten innerhalb der Europäischen Union (EU) wäre noch vor Jahren undenkbar gewesen. Auf dem Höhepunkt der Europäischen Integration zur Zeit der Osterweiterung (2004–2007) galt als sicher, dass der „Prozess
der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas“ nur in eine Richtung verläuft (Europäische Union 2008, Präambel). Debatten über etwaige Rückschläge wurden in den EU-Institutionen und nationalen Parlamenten nicht offen geführt,
sondern tabuisiert. Dies verhalf EU-Kritikern im Vereinigten Königreich (UK) zu einem Brexit-Referendum (23.06.2016), dessen Ergebnis alle überraschte. Noch bevor offizielle Gespräche über Modalitäten des EU-Austritt aufgenommen wurden boten Politiker wie Sigmar Gabriel und Guy Verhofstadt die nationale und damit die EU-Staatsbürgerschaft jenen Briten an, die sich weiterhin der EU zugehörig fühlen (Welt 02.07.2016; zeitonline 10.12.2016).

Beispiele aus der EU zeigen aber, dass die doppelte Staatsbürgerschaft bestehende Konflikte weiter verschärft. So hat Brüssel im Vorfeld der Osterweiterung die bilateralen Spannungen zwischen den neuen EU-Mitgliedern um Minderheitenrechte nicht ausgeräumt. Dabei wurden mit deren Beitritt alle Einwohner beiderseits der Grenzen Unionsbürger. So gibt sich Ungarn mit Antidiskriminierungsgesetzen nicht mehr zufrieden, sondern vereinnahmt die ungarischsprachige Bevölkerung im Ausland durch die Vergabe von Staatsbürgerschaften. Gesetzesreformen in den Jahren 2010/2011 machten es möglich, dass Ende 2017 der ein-millionste Ausländer mit ungarischen Wurzeln und Sprachkenntnissen ein vollwertiger Staatsbürger wurde
(dailynewshungary, 16.12.2017). Damit nicht genug, unterstützt Budapest Forderungen nach einer Territorialautonomie für die ungarischsprachigen Rumänen in Siebenbürgen. 

Der EU-Vertrag von Lissabon verbietet jedoch eine solche Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines EU-Nachbarn und verpflichtet seine Mitglieder ausdrücklich zur gegenseitigen „Wahrung der territorialen Unversehrtheit“ (Art. 4, EU-Vertrag 09.05.2008). Gegen diesen Grundsatz verstoßen auch Grenzrevisionen, wie sie nationalistische Parteien in Ungarn, Rumänien, Bulgarien oder Kroatien trotz EU-Beitritt noch heute anstreben. Sie beziehen sich auf historische Rechte, die teils zur Grundlage nationaler Staatsangehörigkeitsrechte gemacht werden (Riedel 2012). Hier dient der Doppelpass weder der politischen noch der gesellschaftlichen Integration, sondern verpflichtet Minderheiten zur Loyalität gegenüber einem benachbarten „Mutterland“. In jüngeren Debatten wird dieser als „kin-state“ bezeichnet, während im 20. Jahrhundert dafür noch der Begriff „Titularnation“ üblich war (Hatvany 2009; humanrights.ch, 23.04.2013).

Auch in den westlichen EU-Mitgliedstaaten zeigen sich Loyalitätskonflikte bei doppelten Staatsbürgerschaften. Hier betrifft es vor allem Einwanderer aus muslimisch geprägten Ländern, die ihre emigrierten Staatsbürger weiterhin an sich binden. Religionsbehörden und Ministerien für Auswanderer (Tunesien, Algerien) sorgen dafür, dass nachfolgende Generationen die nationale Zugehörigkeit ihrer Eltern bewahren. Auch wenn der Doppelpass als eine Integrationsmaßnahme dargestellt
wird, so kann er genauso zu einem Zankapfel werden. Dies verdeutlichen die jüngsten Versuche des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, die Diaspora in Deutschland politisch für sich zu vereinnahmen, nicht zuletzt Fußballspieler der deutschen Nationalelf. 

Hinter der politisch und religiös begründeten Einflussnahme der Herkunftsländer auf ihre ausgewanderten Staatsbürger und deren Nachkommen stehen vor allem auch wirtschaftliche Interessen. Im Jahre 2017 leisteten laut Weltbank die Migranten
weltweit an ihre Herkunftsländer Rücküberweisungen in Höhe von 613Mrd. US-Dollar, das ist mehr als das Doppelte der gezahlten Entwicklungshilfen (KNOMAD 2018). Umgekehrt gibt es aufseiten der Zielländer die Tendenz, Staatsbürgerschaften anzubieten. Dies beginnt mit Rumänien, dessen Staatsangehörigkeit jeder mit einem Privatvermögen ab eine Million Euro erwerben kann. Es reicht über Malta, das aus dem Verkauf seines Passes ein Geschäftsmodell gemacht und damit im ahr 2015 ca. 200Mio. Euro verdient hat (Spiegel, 19.08.2016). Es schließt mit Estland, das schon für 50 Euro eine virtuelle estnische Staatsbürgerschaft anbietet, als Steuersparmodell für Unternehmen. […]