Volume 5, 2021/3, Feb 27, 15 pages ♦ pdf-Format
Sabine Riedel
Aus Sicht von Theorien zur Demokratie, Transformation, Modernisierung und Interdependenz
INHALT:
Die 15 Seiten enthalten:
Analyse, Zusammenfassung,
8 Abbildungen und Quellentexte,
78 Quellen (verlinkt).
Zum zehnten Jahrestag des Arabischen Frühlings werden aus dem Blickwinkel westlicher Demokratien überwiegend negative Bilanzen gezogen. Doch welche Kriterien liegen dieser Analyse zugrunde? Könnte man aus demokratietheoretischer Sicht nicht auch zu anderen Erkenntnissen kommen? Dieser Beitrag diskutiert darüber hinaus weitere Theorien, die zum Verständnis der aktuellen Krisen beitragen. So verweist der Ansatz der Systemtransformation oder besser die Transformationstheorie auf tiefergreifende sozioökonomische und gesellschaftliche Zusammenhänge: Danach hat es schon Anfang der 1990er Jahre in der arabischen Welt konsekutive Transformations- oder Reformprozesse in Wirtschaft und Politik gegeben.
Ein Ansatz, der den Arabischen Frühling tatsächlich prognostizierte, war die Modernisierungstheorie. Ihre Marginalisierung im weiteren Diskurs ist nicht zu verstehen, da sie doch einfache, aber wichtige Zusammenhänge erklären kann. So war etwa die Stärkung der Frauenrechte in Tunesien der Motor des sozialen Fortschritts und ein Auslöser der Revolution. Schließlich trägt die Interdependenztheorie dazu bei, den Arabischen Frühling im Rahmen der internationalen Politik zu beurteilen. Demnach war er nicht nur Ausdruck innerstaatlicher Entwicklungen, vielmehr tragen externe Akteure eine Mitverantwortung für die heutigen Resultate. Dies führt schließlich auch zu einer Neubewertung der Bewegung der Blockfreien Staaten (NAM).
„Die gegenwärtige Weltpolitik ist […] ein Geflecht aus vielfältigen Beziehungen. In einer solchen Welt kann ein Modell nicht alle Sachverhalte erklären. Das Geheimnis des Erkennens liegt darin, zu wissen, welchen Ansatz oder welche Kombination von Ansätzen man bei der Analyse einer Situation verwenden sollte.“
(Robert O. Keohane, Joseph S. Nye: Power and Interdependence, 1977; 4. Aufl. 2012: 4, Deutsch: S.R.).
Es lohnt sich, auf die Anfänge der modernen Demokratieforschung des 20. Jahrhunderts zu-rückzuschauen und sich der Kriterien bewusst zu werden, nach denen politische Systeme als de-mokratisch bezeichnet werden. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Robert A. Dahl nannte einen Kernbestand von sechs Grundfreiheiten. Dazu gehören das Recht auf frei Wahlen und den Zugang zu politischen Ämtern sowie das Recht auf freie Meinungsäußerung und den Zugang zu unabhängigen Informationen.
Werden dieser Freiheitsrechte eingeschränkt, sind Demokratien in Gefahr, dies zeigen die Präsidentschaftswahlen in den USA sowie die Notverordnungen europäischer Demokratien in der Corona-Krise. Erwähnenswert ist zudem, dass Dahl sein Modell als „Polyarchie“, d.h. „Herrschaft der Vielen“ bezeichnete, um den Prozesscharakter abzubilden, an dessen Ende das idealtypische Modell der Demokratie steht.
Mithilfe dieser formalen Kriterien können nicht nur demokratische Systeme von autoritären Regimen abgegrenzt werden. Es lassen sich damit auch Übergänge beschreiben, wie sie im Verlauf des Arabischen Frühlings angestoßen wurden. Doch die zitierten negativen Bilanzen zum zehnten Jahrestag geben sich damit offenbar nicht zufrieden. Sie sind ergebnisorientiert, wenn sie feststellen, dass Tunesien das einzige Land sei, in dem sich „seit 2011 eine fragile Demokratie entwickelt“ habe (FES 2020: 5). Prüft man diese Aussage anhand Dahls Kriterienkatalog, kommen Zweifel, ob das politische System Tunesiens tatsächlich alle Voraussetzungen für eine Demokratie erfüllt.
Ein wesentliches Defizit betrifft das Recht auf Zugang zu allen Staatsämtern. Denn in der neuen Verfassung blieb die Bestimmung erhalten, dass sich nur ein Muslim um das Amt des tunesischen Staatspräsidenten bewerben darf (vgl. Art. 38, Tunisia’s Constitution of 1959 und Art. 74, Tunisia’s Constitution of 2014). Diese Voraussetzung ist Ausdruck der islamischen Identität der schen Republik, wie sie in Artikel 1 der Verfassung (1959 und 2014) festgelegt ist. Sie steht jedoch in Widerspruch zu anderen Artikeln, so etwa zur rechtlichen Gleichstellung aller Bürger (Artikel 21) und zum Recht auf Religionsfreiheit (Artikel 6), was in der verfassungsgebenden Versammlung zu kontroversen Diskussionen führte. … [S. 3f.]