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THEMA  2023 / 6

Sabine Riedel

EU-SANKTIONEN UND KRIEGSWIRTSCHAFT

Bildquellen:

Kees Torn, Netwerk dag van Piet Sinke van Maasmond Maritiem aan boord van de ELBE, vanuit Maassluis via de Rozenburgsluis naar de Maasvlakte 2, in: Wikipedia, 12.9.2019, Quelle dort:  https://flickr.com/photos/68359921@N08/48694054418; EU Sanctions Map 2023.

SANKTIONEN

▪ POLITISCHE ZIELE UND DEREN BEGRENZUNG DURCH EU- UND VÖLKERRECHT

GRENZEN DER SANKTIONSPOLITIK DER EUROPÄISCHEN UNION DURCH DAS EIGENE EU-RECHT

Europäischer Rat, Rat der Europäischen Union, 2023

Wie und wann die EU Sanktionen verhängt

Restriktive Maßnahmen oder „Sanktionen“ sind ein wichtiges Instrument der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU. Sie werden von der EU als Teil eines ganzheitlichen und umfassenden politischen Ansatzes eingesetzt, zu dem auch politischer Dialog, flankierende Bemühungen und die Anwendung anderer der EU zur Verfügung stehender Instrumente gehören. […]

Alle von der EU verhängten restriktiven Maßnahmen stehen vollständig im Einklang mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen, nicht zuletzt den Verpflichtungen im Bereich Menschenrechte und Grundfreiheiten.

Wichtigste Ziele bei der Annahme von Sanktionen

  • Wahrung der Werte, der grundlegenden Interessen und der Sicherheit der EU
  • Friedenserhaltung
  • Festigung und Förderung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Menschenrechte und der Grundsätze des Völkerrechts
  • Verhütung von Konflikten und Stärkung der internationalen Sicherheit […].

Quelle: EU-Sanktionen, Ziele 30.12.2023 [fette Schrift im Originaltext]

♦   Medienberichte und Politiker erzeugen den Eindruck, als könnten Staaten jederzeit eigenmächtig andere Länder mit Sanktionen belegen. In aller Regel geht es um politisch oder wirtschaftlich schwächere Staaten, auf die Druck ausgeübt wird, um sie zu bestimmten politischen Entscheidungen zu bewegen (fdp.de, 25.5.2021, bild.de, 24.02.2019). In diesem Beitrag geht es vor allem um politologische Fragen: In welchem Rechtsrahmen können Sanktionen verhängt werden und wer entscheidet darüber?

♦   Streitigkeiten um die Verhängung von Wirtschaftssanktionen ergeben sich aus der Existenz  unterschiedlicher Rechtsnormen. Für die EU-Mitglieder ist das EU-Recht eine wichtige Grundlage. Danach kann nur der Rat der EU oder der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs Sanktionen verhängen. Dafür ist ein Konsens zwischen allen 27 Mitgliedstaaten notwendig. Denn dieses Politikfeld ist nicht vergemeinschaftet, sondern liegt in der Zuständigkeit der nationalen Regierungen und deren Parlamente. Jedes Mitglied kann sich aus Maßnahmen der EU-Sanktionspolitik zurückziehen.

♦   Ansatzpunkte für Kritik an Sanktionsmaßnahmen sind die EU-Verträge, in denen die Ziele gemeinsamer Entscheidungen festgelegt sind: An erster Stelle steht die Wahrung der eigenen nationalen Interessen, gefolgt von dem Bekenntnis zum Friedenserhalt und der Verhütung weiterer internationaler Konflikte (consilium.europa.eu, 30.12.2023, vgl. linke Spalte). Es gehört somit zum politischen Geschäft, dass in der EU kontrovers über die Sanktionspolitik der EU kontrovers diskutiert wird.

GRENZEN DER EU-SANKTIONSPOLITIK DURCH DAS INTERNATIONALE VÖLKERRECHT

Staatenverantwortlichkeit im Völkerrecht, Ipsen 2018

Quelle: Ipsen 2018, Oliver Dörr, Kapitel 7, § 30 [fette Schrift im Originaltext].

c) Gegenmaßnahmen (Repressalien)
§ 41 […] Gemeint ist die bewusste Nichterfüllung einer völkerrechtlichen Rechtspflicht als Antwort auf erlittenes  Unrecht, die zwar eigentlich selbst völkerrechtswidrig ist, als angemessene Reaktion auf die vorangegangene Verletzung aber gerechtfertigt sein kann. Die Repressalie ist eine Maßnahme des Beugezwangs, die mit dem Ziel erfolgt, den Rechtsverletzer durch einen Eingriff in seine Rechte zur Rückkehr zu rechtmäßigen Verhalten zu veranlassen. […]
§ 54 […] Allerdings enthält das moderne Völkerrecht verschiedene gegenständliche Repressalienausschlüsse zum Schutz bestimmter Rechtsgüter, die einem kalkulierten Rechtsbruch von vornherein nicht ausgesetzt sein sollen und auf die der repressalienübende Staat nicht zugreifen darf.
§ 55 […] So sind im bewaffneten Konflikt Repressalienhandlungen absolut untersagt gegen Verwundete, Kranke, […], gegen Zivilpersonen, ziviles Eigentum […] und zivile Objekte […], gegen Kulturgüter und Kultstätten […], gegen Einrichtungen der Nahrungsmittelerzeugung, Trinkwasserversorgung und Bewässerung, […] gegen die natürliche Umwelt […] sowie gegen Staudämme, Deiche und Kernkraftwerke […].

gg) Verhältnismäßigkeit
§ 63 Schließlich kann eine Repressalie nur rechtmäßig sein, wenn ihre Wirkungen in einem angemessenen Verhältnis zum erlittenen Unrecht stehen. […]

♦   Das EU-Recht basiert auf dem geltenden «Grundsätzen des Völkerrechts» (s. o., linke Spalte). Daher sind EU-Sanktionsmaßnahmen auch daran zu messen, ob sie diesen Normen gerecht werden. Wie ein Blick in die Fachliteratur zeigt, wird das Völkerrecht je nach Rechtstradition und Interessen unterschiedlich ausgelegt. Doch gibt es daneben nahezu unumstößliche Regeln, die kaum Spielräume zur Interpretation zulassen. So ist man sich einig, Sanktionen als Gegenmaßnahmen oder Repressalien zu verstehen.

♦   Dies führt zu der Frage, wer Repressalien ergreifen darf. Das Völkerrecht möchte verhindern, dass Staaten willkürlich anderen schaden. Sanktionen als Antwort auf einen Rechtsverstoß müssen sich daher auf einen konkreten Anlass beziehen (vgl. Ipsen 2018 § 41, linke Spalte). Im Fall einer militärischen Aggression, hat der betroffene Staat das Recht auf Selbstverteidigung. Doch dürfen sich Dritte nicht allen Gegenmaßnahmen anschließen. So unterliegt der Einsatz militärischer Gewalt allein dem UN-Sicherheitsrat.

Schließlich hat das Völkerrecht für alle Konfliktparteien rote Linien gezogen, auch für den Staat, der sich gegen eine Aggression verteidigt. An erster Stelle steht das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Sanktionen müssen in einem «angemessen Verhältnis zum erlittenen Unrecht» stehen  (a.a.O. § 63, linke Spalte). Danach sind Maßnahmen völkerrechtswidrig, die zu einer Eskalation der Konflikts beitragen. Schließlich gibt es für Repressalien aller Art unumstößliche Tabus: Dazu gehört die Schädigung von Zivilpersonen und Infrastruktur zur Versorgung der Bevölkerung. 

EUROPÄISCHE UNION

▪ AKTUELE SANKTIONS-REGIME UND DIE LEGITIMIRUNG DER SANKTIONS-POLITIK

DIE SANKTIONS-REGIME DER EUROPÖISCHEN UNION –  ZIELE UND INTERESSEN

EU Sanktionen Personen 2023

Quelle: Eigene Zusammenstellung nach: Europäische Union, EU sanctions tracker 2023, https://data.europa.eu/apps/eusanctionstracker/

Sanktionen im Rahmen der EU-Verträge

Zu den Sanktionen im engeren Sinne […] gehören:

  • Waffenembargos: Die Ausfuhr von Gütern und Technologien, die in der EU-Militärgüterliste aufgeführt sind, ist verboten
  • Reiseverbote: betroffene Personen haben nicht die Möglichkeit der Einreise in und der Durchreise durch EU-Gebiet
  • Einfrieren von Vermögenswerten: alle Vermögenswerte von mit Sanktionen belegten Personen und Organisationen in der EU werden eingefroren
  • Nichtverfügbarkeit von finanziellen Mitteln: Personen und Einrichtungen in der EU dürfen den von den Sanktionen betroffenen Personen und Organisationen keine finanziellen Mittel zur Verfügung stellen
  • Wirtschaftssanktionen: Beschränkungen in den Bereichen Handel, Verteidigung, Technologien, Finanzen, Verkehr und Energie […].

Quelle: EU-Sanktionen, Arten, 30.12.2023 [fette Schrift im Originaltext]

♦   Offiziell dienen Sanktionen der Europäischen Union der Durchsetzung von Menschenrechten und Konfliktprävention. Gern wird darauf hingewiesen, dass Brüssel seine Strafmaßnahmen zur «Umsetzung von Sanktionsbeschlüssen des UN-Sicherheitsrates» einsetze (bpb.de, 2023). Damit umgibt sich die EU mit einer völkerrechtskonformen Aura, an der kritische Nachfrage abprallen: Wie weit geht ihr Engagement für Menschenrechte und wo beginnt ihr eigennütziges Handeln im globalen Wettbewerb? Instrumentalisieren EU-Mitglieder diese europäischen Strukturen zur Durchsetzung ihrer nationalen Interessen?

♦   Die Europäische Union unterhält gegenwärtig Sanktionsregime gegen 35 Staaten weltweit, die je nach Fall unterschiedliche Maßnahmen umfassen (detailliert aufgelistet unter: EU Sanctions Map 2023). Sie reichen von Waffenembargos über Reiseverbote und finanziellen Strafen bis hin zur Beschränkung bestimmter Handelsbranchen, Wirtschaftszweige und Verkehrswege (vgl. linke Spalte). Die meisten dieser EU-Maßnahmen hat die Bundesrepublik Deutschland übernommen, allerdings nicht alle, wie aus der entsprechenden Sanktionsliste hervorgeht (bafa.de, 30.06.2023).

♦   Wie diese Listen zeigen, geraten überwiegend wirtschaftlich oder politisch schwache Länder in den Fokus. Zudem gibt es zunehmend EU-Strafmaßnahmen, die nicht von den UN getragen werden, etwa gegen Russland und China, aber auch gegen Belarus, Haiti, Iran, Libanon, Libyen, Myanmar, Sudan, Syrien, Venezuela und Zimbabwe (vgl. linke Spalte). Dass es nicht mehr um «Menschenrechte» oder «Konfliktprävention» geht, erschließt sich aus einer anderen Liste: Unter den 10 größten Waffenexporteuren weltweit sind 4 EU-Mitglieder: „Frankreich (Platz 2), […] Deutschland (Platz 5), Italien (Platz 6) [… und] Spanien (Platz 8)“ (euronews.com 11.3.2024).

SANKTIONS-REGIME ALS AUSSENPOLITISCHES INSTRUMENT DER EU ALS QUASI-STAAT  

Der Rat der Europäischen Union

Was macht der Rat der EU? […].

  • Er entwickelt die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU.
    Der Rat übernimmt nach Maßgabe der vom Europäischen Rat vorgegebenen Leitlinien die Festlegung und Umsetzung der Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Dazu gehören auch die Entwicklungshilfe und humanitäre Hilfe, die Verteidigung und der Handel der EU. Gemeinsam mit dem Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik sorgt der Rat für ein einheitliches, konsequentes und wirksames außenpolitisches Handeln der EU.

  • Er schließt internationale Abkommen.
    Der Rat beauftragt die Kommission, im Namen der EU Abkommen zwischen der EU und Drittländern bzw. internationalen Organisationen auszuhandeln. Am Ende der Verhandlungen entscheidet der Rat auf Grundlage eines Vorschlags der Kommission über die Unterzeichnung und den Abschluss eines Abkommens. Er erlässt den endgültigen Beschluss über den Abschluss des Abkommens, sobald das Parlament seine Zustimmung erteilt hat (erforderlich in Bereichen, die der Mitentscheidung unterliegen) und alle EU-Mitgliedstaaten das Abkommen ratifiziert haben.

    Diese Abkommen können große Bereiche, wie Handel, Zusammenarbeit und Entwicklung, abdecken oder aber besondere Themen, wie Textilien, Fischerei, Zölle, Verkehr, Wissenschaft und Technologie usw., betreffen.[…].

Quelle: Rat der EU [fette Schrift im Originaltext]

♦   Neben dem Widerspruch zwischen Anspruch (Menschenrechte) und Wirklichkeit (Waffenexporte) hat die EU noch ein anderes Problem bei Sanktionen. Die Brüsseler Behörden in Brüssel können außenpolitisch gar nichts allein entscheiden. Die Außen- und Sicherheitspolitik liegt in der ausschließlichen Kompetenz der EU-Mitgliedstaaten, d.h. bei deren Regierungen und Parlamente (VAEU 2016, Art. 3). Diese müssen im Rat der Europäischen Union (der Fachminister), in diesem Fall im Rat der 27 Außenminister einen Konsens ohne Gegenstimme finden. In Streitfragen entscheidet der Europäische Rat der 27 Staats- und Regierungschefs.

♦   Die Europäische Kommission, d.h. deren Kommissar oder Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik hat nur die Aufgabe, diese von den Mitgliedern gemeinsam gefassten Beschlüsse nach außen zu vertreten (vgl. linke Spalte). Wenn Nachrichten melden „EU beschließt neue Sanktionen gegen Russland“ (euronews.com, 21.06.2023), ist das nicht falsch. Doch ist der vermittelte Eindruck, es handele sich hier um eine eigenständige Entscheidung der supranationalen Ebene, irreführend. Es war eine abgestimmte, außenpolitische Linie unter 27 Einzelstaaten, die jedes Mitglied zurücknehmen kann.

♦   Mit der Konsensfindung bei Wirtschaftssanktionen verfestigt sich das Bild einer EU, die in der internationalen Politik mitspielt und einflussreichen Staaten wie Russland, China oder den USA die Stirn bieten könne. Doch in allen internationalen Organisationen sind nur die EU-Mitgliedstaaten vertreten und stimmberechtigt. Vertreter der EU haben dort allenfalls beratende oder eine koordinierende Funktion. Deshalb nutzen die Brüsseler Institutionen die Sanktionsmaßnahme als ein Instrument, um außenpolitisch zu reüssieren, obwohl sie auf  diplomatischem Parkett de facto nichts  zu sagen haben.

EU-KRIEGSWIRTSCHAFT SEIT 2023

▪ GEHEIME GREMIEN BEREITEN SITZUNGEN DES RATS VOR

SICHERHEITS-„EXPERTEN“ SETZEN IN GEHEIM TAGENDEN GREMIEN EU-SANKTIONEN AUF DIE AGENDA

Europäischer Rat, Rat der Europäischen Union,
Vorbereitungsgremien

„AStV (2. Teil)

Der AStV (2. Teil) setzt sich aus den Ständigen Vertretern aller Mitgliedstaaten zusammen. Seine Tagungen werden vom Ständigen Vertreter des Landes geleitet, das den Vorsitz im Rat «Allgemeine Angelegenheiten» innehat.

Die Arbeit des AStV (2. Teil) wird von der «Antici-Gruppe» vorbereitet. Diese informelle Gruppe trägt dazu bei, eine erste Vorstellung von den Standpunkten zu vermitteln, die die Delegationen der einzelnen Mitgliedstaaten auf der AStV-Tagung vertreten werden. […]

Der AStV ist das wichtigste Vorbereitungsgremium des Rates. […].

Die zwei Formationen des AStV (1. Teil und 2. Teil) treten jeweils wöchentlich zusammen.“

„Arbeitsgruppe des EU-Militärausschusses (EUMCWG)

Als Unterstützungsgremium für den EUMC führt die EUMCWG die ihr vom EUMC übertragenen Aufgaben aus und erstattet ausschließlich dem EUMC Bericht.

Im Auftrag des EUMC nimmt die EUMCWG gründliche Prüfungen und Erörterungen von Vorschlägen und/oder Dokumenten mit dem Ziel vor, einen Konsens herbeizuführen.

Die EUMCWG wird von einem gewählten Vorsitz (CEUMCWG) geleitet, der vom AStV auf Empfehlung des EUMC für eine Amtszeit von drei Jahren ernannt wird.“

Quelle: consilium.europa.eu, AStV (2), 30.12.2023. [fette Schrift: Eigene Hervorhebung]

Quelle: consilium.europa.eu, EUMCWG, 30.12.2023 [fette Schrift: Eigene Hervorhebung]

♦   Wie wird überhaupt in außenpolitischen Themen ein Konsens zwischen den 27 EU-Mitgliedern hergestellt? Das ist allein deshalb so schwierig, weil jeder Staat seine eigenen Interessen verfolgt. Allein aus historischen, kulturellen oder wirtschaftlichen Gründen haben zum Beispiel Spanien und Deutschland ganz unterschiedliche Beziehungen zu Lateinamerika oder Osteuropa. Die Notwendigkeit «einer europäischen Position» kann und sollte man deshalb in demokratischen Systemen stets hinterfragen.

♦   In der Praxis zeigt sich schließlich, dass bei dieser Konsenssuche in außenpolitischen Fragen sämtliche demokratische Spielregeln missachtet werden. Nach den EU-Verträgen entscheidet der Rat der Außenminister der EU-Mitgliedstaaten einstimmig über gemeinsame Wirtschaftssanktion. Wenn ein Mitglied jedoch aus seiner Interessenslage heraus ein Veto einlegt, sprechen die Medien bereits von einer «Blockadehaltung» oder einem «Erpressungsversuch» (spiegel.de, 22.11.2023).

♦   Oft ist der zu fassende Beschluss bereits vor dem Zusammentreffen des Rats der Außenminister gefällt worden: Geheim tagende Ausschüsse und Expertenrunden legen die Tagesordnungen der Ratssitzungen fest. Im Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten (AStV) sind noch alle EU-Länder vertreten. Doch diese werden wiederum von informellen Gruppen gelenkt, z.B. von der Antici-Gruppe (consilium.europa.eu, AStV (2), 30.12.2023). Dahinter stehen weitere Expertengruppen (vgl. linke Spalte), so etwa die des EU-Militärausschusses (EUMCWG, consilium.europa.eu, EUMCWG, 30.12.2023, vgl. Graphik unten:)

EU Entscheidungsstruktur Ukraine 2023

Diese Abbildung ist eine vereinfachte Graphik aus dem Artikel von Sabine Riedel: „Kriege ohne Kriegserklärungen“ der Zeitschrift FPK 2023/3, 9.8.2023, S. 19. In dieser pdf-Version ist die Graphik mit den betreffenden Institutionen und Gremien verlinkt. Eine aktuelle Übersicht über die Beratungsgremien des Rats erschien am 20.12.2023 unter: data.consilium.europa.eu, 20.12.2023.

DER EUROPÄISCHE KOMMISSAR FÜR VERTEIDIGUNG FÜHRTE 2023 DIE EU IN DIE KRIEGSWIRTSCHAFT

Gesetz der Europäischen Union zur
Unterstützung der Munitionsproduktion (ASAP),
 3.5.2023

Quelle:europa.eu, 3.5.2023 [fette Schrift: Eigene Hervorhebung].

Thierry Breton, EU-Kommissar für Binnenmarkt und Verteidigung:

„Die EU hat zugesagt, innerhalb von 12 Monaten 1 Million Schuss Munition an die Ukraine zu liefern.

Um dies zu  erreichen, haben wir gemeinsam mit dem Hohen Vertreter [der EU für Aussen- und Sicherheitspolitik, Mitglied der EU-Kommission] Josep Borrell mit den Verteidigungsministern der 27 Mitgliedstaaten einen Drei-Punkte-Plan festgelegt:

  • Fortsetzung der Freigabe der Bestände der Mitgliedstaaten – durch die Mobilisierung von 1 Milliarde Euro aus der Friedensfazilität,
  • Gemeinsam einkaufen– wiederum mit 1 Milliarde Euro aus der Friedensfazilität,
  • Sicherstellung des Hochfahrens der industriellen Produktion […].
 

Die wichtigsten Lektionen, die ich aus diesen Besuchen [in 11 Mitgliedstaaten] gelernt habe:

3) Die dritte Erkenntnis ist, dass unsere Verteidigungsindustrie wirklich die Produktion hochfahren will. […] Es ist notwendig, die industrielle Basis zu «pushen» und das Paradigma zu ändern. Wir müssen in einen Modus der ‚Kriegswirtschaft‘ übergehen.

4) Es geht auch darum, die Lieferkette in Gang zu bringen, vor allem bei Pulver, Sprengstoffen und Werkzeugmaschinen. […]“

♦   Ein Beispiel dafür, wie erfolgreich die handverlesenen Experten sowie die vorbereitenden Gruppen und Gremien (siehe Graphik oben) den Rat der EU in seiner Entscheidungsfindung lenken, ist die Einführung einer Kriegswirtschaft im Verlauf des Jahres 2023. Am 9.10.2023 gab der Rat endgültig Grünes Licht für eine Verordnung zur «Förderung der gemeinsamen Beschaffung in der EU-Verteidigungsindustrie» (EDIRPA, vgl. consilium.europa.eu, 09.10.2023).

♦   Der für den Binnenmarkt und für Verteidigung zuständige EU-Kommissar Thierry Breton begründete die von ihm initiierte Verordnung anfangs nicht mit dem Krieg in der Ukraine. Es geht ihm um die Stärkung der «europäischen» Verteidigungsindustrie. Führende Rüstungskonzerne aus Italien, Deutschland und Frankreich werden durch EU-Gelder subventioniert. Drei Jahre zuvor hat Breton die Voraussetzungen dafür geschaffen: Auf seine Initiative hin hat der Rat der EU einen Finanztopf außerhalb des EU-Budgets aufgemacht, die Europäische Friedensfazilität (EFF, consilium.europa.eu, EFF, Zeitleiste 28.11.2023).

♦   Der Name Europäische Friedensfazilität ist allerdings irreführend. Denn der EFF-Fonds dient nicht dem Friedenserhalt, d.h. der Unterstützung von Friedensaktivitäten als grundsätzliches Ziel der EU (siehe Zitat oben unter Sanktionen). Vielmehr werden mit diesen EU-Gelder Rüstungsunternehmen subventioniert und ausländische Armeen finanziert, damit deren Regierungen Maßnahmen der Konfliktverhütung ergreifen können (a.a.O.). Eine Überprüfung findet nicht statt, ansonsten müssten EFF-Mittel für die Ukraine an Konditionen im Interesse einer friedlichen Konfliktlösung geknüpft werden.

DIE EU HAT IMMER RECHT

▪ KEIN WIDERSTAND AUS DEUTSCHLAND IM RAT DER EU

DAS GRUNDGESETZ HAT KLARE VORGABEN FÜR NOTLAGEN UND DEN VERTEIDIGUNGSFALL

Artikel 115a
(1) Die Feststellung, daß das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht (Verteidigungsfall), trifft der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates. Die Feststellung erfolgt auf Antrag der Bundesregierung und bedarf einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, mindestens der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages.

(2) Erfordert die Lage unabweisbar ein sofortiges Handeln und stehen einem rechtzeitigen Zusammentritt des Bundestages unüberwindliche Hindernisse entgegen oder ist er nicht beschlußfähig, so trifft der Gemeinsame Ausschuß [mit 48 Mitgliedern aus Bundestag und Bundesrat, S.R.] diese Feststellung mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen, mindestens der Mehrheit seiner Mitglieder.

(2) Durch ein Gesetz des Gemeinsamen Ausschusses darf das Grundgesetz weder geändert noch ganz oder teilweise außer Kraft oder außer Anwendung gesetzt werden. […]“

Quelle: https://www.bundestag.de/gg [fette Schrift: Eigene Hervorhebung].

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 23.5.1949

♦   Seit Beginn der Corona-Pandemie im März 2020 stellen die Abgeordneten in Bund und Ländern alljährlich eine finanzielle Notlage fest und setzen die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse aus. Ende 2023 wurde zur Begründung «die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen des Ukraine-Kriegs» herangezogen (zeit.de, 15.12.2023). Es stellt sich die Frage, ob die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit zustande gekommen wäre, hätte die Regierung die Abgeordneten über die Einführung einer Kriegswirtwirtschaft auf EU-Ebene informiert.

♦   Deutsche Medien verharmlosen den Begriff «Kriegswirtschaft» als «falsche Wortwahl» (dw.com, 03.06.2023). Dabei verschweigen sie nicht die breiten Interpretationsspielräume, beginnend mit einer Subventionierung der Rüstungsindustrie und einer Steuerung der Wirtschaft, die in einer Fortschreibung der Verschuldung und finanzielle Notlage endet. Die Medien klären jedoch nicht darüber auf, wie Brüssel die «Friedensfazilität» missbraucht und die EU in eine Kriegswirtschaft drängt, die in einer Kriegsbeteiligung enden könnte.

♦   Berlin hat im Rat der Zweckentfremdung der EFF-Mittel für den Ukraine-Krieg sowie der Erhöhung des Budgets von anfangs 5 Mrd. auf 12 Mrd. bis Mitte 2023 zugestimmt (consilium.europa.eu, EPF). Es stellt sich die Frage, ob die Bundesregierung dazu legitimiert ist, wenn sie wissentlich zur Entstehung einer Notlage beiträgt, auf die sich später beruft, um die im Grundgesetz festgeschriebene Schuldenbremse auszusetzen. Der Weg von der aktuellen «Notlage» in einen «Verteidigungsfall» ist kurz und deshalb gefährlich (siehe linke Spalte). Er wäre das Ende unserer Demokratie.

WICHTIGE QUELLENTEXTE

▪ DIESER BEITAG BASIERT AUF FOLGENDEN QUELLEN:

bafa.de, 30.06.2023, Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, Übersicht über die länderbezogenen Embargos, 30.06.2023.
 
bild.de, 24.02.2019, Eskalation in Venezuela. Deutsche Politiker fordern Sanktionen gegen Maduro.
 
bpb.de, 2023, P. Königs, Sanktionspolitik der EU, Bundeszentrale für politische Bildung, Das Europalexikon, 2023.
 
bundestag.de, 2019, Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Rechtsfragen zu völkerrechtlichen Sanktionen, Berlin, 08.07.2019.
 
bundestag.de, 05.12.2023, Deutscher Bundestag, Experten billigen Nachtragshaushalt für 2023 mehrheitlich.
 
consilium.europa.eu, 09.10.2023, Europäischer Rat, Rat der Europäischen Union, Pressemitteilung, EDIRPA: Rat ebnet Weg zur Förderung der gemeinsamen Beschaffung in der EU-Verteidigungsindustrie.
 
consilium.europa.eu, EPF, Europäischer Rat, Rat der Europäischen Union, European Peace Facility [nur auf Englisch verfügbar].
 
consilium.europa.eu, EFF Zeitleiste, 28.11.2023, Europäischer Rat, Rat der Europäischen Union, Zeitleiste – Europäische Friedensfazilität.
 
consilium.europa.eu, 30.12.2023, Europäischer Rat, Rat der Europäischen Union, Wie und wann die EU Sanktionen verhängt, 2023.
 
consilium.europa.eu, AStV (2), 30.12.2023, Europäischer Rat, Rat der Europäischen Union, AStV (2. Teil).
 
data.consilium.europa.eu, 20.12.2023, Rat der Europäischen Union, Generalsekretariat,  Vorbereitungsgremien des Rats, Brüssel, Dokument Nr. 16975/23, 20.12.2023.
 
EU Sanctions Map 2023, European Commission, 30.12.2023.
 
euronews.com 11.3.2024, Europas Waffenimporte fast verdoppelt, Frankreich überholt Russland beim Export von Waffen.
 
europa.eu 2023, Europäische Kommission, Bereiche der EU-Politik, Brüssel 2023.
 
europa.eu, 3.5.2023, Act in Support of Ammunition Production – ASAP, Press conference by Internal Market Commissioner Thierry Breton, Brussels, 3.5.2023, 
 
europa.eu/de, EU-Rat, 30.7.2023, Europäischer Rat, Rat der Europäischen Union, Vorbereitungsgremien des Rates.
 
fdp.de, 25.5.2021, Freie Demokraten, FDP fordert hartes Vorgehen gegen Staatspräsident Lukaschenko.
 
Ipsen, 2018, Knut Ipsen, Völkerrecht, Juristische Kurz-Lehrbücher, 7. Auflage, München 2018, darin u.a.: Oliver Dörr, Kapitel 7: Völkerrechtliche Verantwortlichkeit (§ 29 – § 31). 
 
 
VAEU 2016, Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (Konsolidierte Fassung 2016), EUR-Lex. Der Zugang zum EU-Recht.
 
VEU 2016, Vertrag über die Europäische Union (Konsolidierte Fassung 2016), EUR-Lex. Der Zugang zum EU-Recht.
 
zeit.de, 15.12.2023, Bundestag stimmt für Aussetzung der Schuldenbremse 2023.

DOKUMENTATION ZUR UKRAINE

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