THEMA 2022 / 6
SABINE RIEDEL
Vgl. PUBLIKATION: Atomgeschäfte und Atomwaffen im Ukraine-Krieg. Eine kommentierte Dokumentation zum militärischen Konflikt um das AKW Saporischschja, in: Forschungshorizonte Politik & Kultur, Vol. 6, 2022/10, 46 S.
Bildquelle: Wandgemälde von Peter Seaton, Künstler aus Melbourne, Australien: Peace before pieces [2022] by CTO, CTOart, Sydney, 3.9.2022. Das Bild zeigt die Umarmung eines russischen (links) und ukrainischen Soldaten (rechts) und stand unter dem Motto „Frieden bevor die Welt zerstört wird“ (Übersetzung: S.R.).
Einleitung:
Mit Beginn des Ukraine-Kriegs am 24.2.2022 steht erstmals in der Geschichte der modernen Kriegsführung ein Atomkraftwerk (AKW) im Mittelpunkt eines militärischen Konflikts. Gleich zu Beginn besetzte das russische Militär die AKW-Ruine von Tschernobyl im Norden der Ukraine, wenige Tage später das AKW Saporischschja im Süden, den größten Atommeiler Europas. Am 10.7.2022 rief das ukrainische Unternehmen Energodatom das Militär zur gewaltsamen Rückeroberung auf (energoatom, 10.7.2022). Seitdem steht das AKW immer wieder unter Granatenbeschuss (über 300 Einschläge bis Ende Dezember 2022), obwohl seit Anfang September Vertreter der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) vor Ort sind.
In seinem Bericht an den UN-Sicherheitsrat sagte der IAEA-Chef Rafael Grossi: „Wir spielen mit dem Feuer, und es könnte etwas Katastrophales passieren.“ (digitallibrary.un.org, 7.9.2022: 3) Deshalb schlug Grossi eine Entmilitarisierung des Gebiets um das AKW vor, bislang jedoch ohne Erfolg. Dies ist u.a. darauf zurückzuführen, dass sich die IAEA dem Druck der G7 gebeugt und in diesem Konflikt Partei für die Ukraine ergriffen hat. Daraufhin nahm Russland das AKW per Dekret vom 5.10.2022 vollständig in seinen Besitz. Dadurch wurde offensichtlich, dass die Granatenangriffe (auch) vom ukrainischen Militär ausgehen. Seither droht Moskau, dass ein provozierter Atomunfall im AKW Saporischschja dem Einsatz einer taktischen Atomwaffe gleichkomme und dieser eine atomare Antwort nach sich ziehen werde.
Die ursprüngliche Fassung dieser Dokumentation vom September 2022 wurde aus Platzgründen gekürzt und in drei Fokusthemen aufgeteilt: Die Ausgabe 4/2022 konzentriert sich auf wichtige Infos zum AKW Saporischschja und bietet übersetzte Zitate aus ukrainischen und russischen Quellen mit Links zu den Originaltexten. Die Ausgabe 5/2022 steht unter dem Motto Atomgeschäfte im Ukraine-Krieg und konfrontiert den Leser mit den Interessen der Atomindustrie und dem potentiellen Missbrauch der AKWs als taktische Atomwaffen. Diese Ausgabe 6/2022 unter dem Titel Countdown: Welt ohne Atomwaffen zeigt Auswege aus der drohenden nuklearen Konfrontation auf: Seit dem 22.1.2021 ist der Atomwaffenverbotsantrag (AVV) in Kraft getreten, der sowohl die Forschung als auch die Stationierung von Atomwaffen verbietet.
Möglicherweise sind die Atomindustrie und die IAEA als ihr Interessensverband nervös geworden, so dass sie neue Fakten schaffen wollen. Dies erklärt, warum die IAEA mitten im Ukraine-Krieg erklärte, dass die Atomkraft weltweit im Aufwind sei. Umso wichtiger ist die Aufklärung darüber, dass sie keine „saubere“ Technologie darstellt und im Rahmen der Dual-Use-Forschung für Waffen missbraucht werden kann. Der Öffentlichkeit ist kaum bekannt, dass ca. 60 km nordwestlich des ukrainischen AKW Saporischschja das größte radioaktiv kontaminierte Gebiet der Welt liegt, das stillgelegte Chemiewerk Prydniprovsky (PCP). Dort lagert 15 mal so viel Atommüll wie in der AKW-Ruine von Tschernobyl, teils unter freiem Himmel. … Die drei Fokusthemen sind ausführlich nachzulesen in der oben genannten Publikation der Autorin: Atomgeschäfte und Atomwaffen im Ukraine-Krieg, in: FPK, 10/2022, 45 S.
DATUM
INFORMATIONEN (eigene Texte mit „Zitaten„, Umschrift eingedeutscht bzw. Englisch, Übersetzung: S.R.)
QUELLEN (Autor, Titel, URL u.a.)
1.7.1968
Mit dem Atomwaffensperrvertrag (vgl. Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons, NPT, dt. auch: Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen) verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten zur Nichtverbreitung und zur Abrüstung von Atomwaffen. Dieser internationale Vertrag wurde von den fünf Atommächten USA, Frankreich, VR China, Großbritannien und der Sowjetunion geschlossen und trat am 5.3.1970 in Kraft. Heute gehören ihm 191 UN-Mitglieder an. Vier Staaten sind dem NVV nicht beigetreten: Der 2011 unabhängig gewordene Südsudan sowie Indien, Israel und Pakistan, von denen man annimmt, dass sie über Atomwaffen verfügen.
Die ursprüngliche Dauer des NVV belief sich auf 25 Jahre. Auf der Überprüfungskonferenz am 11.5.1995, wurde er auf unbestimmte Zeit verlängert. Aus heutiger Sicht ist relevant, dass Taiwan den NVV ratifiziert hat, obwohl es offiziell kein UN-Mitglied mehr ist (vgl. hierzu: Thema im Fokus 6/2021).
„Artikel I
Jeder Kernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, verpflichtet sich, Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber an niemanden unmittelbar oder mittelbar weiterzugeben und einen Nichtkernwaffenstaat weder zu unterstützen noch zu ermutigen noch zu veranlassen, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper herzustellen oder sonstwie zu erwerben oder die Verfügungsgewalt darüber zu erlangen.
Artikel II
Jeder Nichtkernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, verpflichtet sich, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper weder herzustellen noch sonstwie zu erwerben und keine Unterstützung zur Herstellung von Kernwaffen oder sonstigen Kernsprengkörpern zu suchen oder anzunehmen. […]
Artikel IV
(1) Dieser Vertrag ist nicht so auszulegen, als werde dadurch das unveräußerliche Recht aller Vertragsparteien beeinträchtigt, unter Wahrung der Gleichbehandlung und in Übereinstimmung mit den Artikeln I und II die Erforschung, Erzeugung und Verwendung der Kernenergie für friedliche Zwecke zu entwickeln.“
Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland, Text des Vertrages über die Nichtverbreitung von Kernwaffen –NVV, 1.7.1968, www.auswaertiges-amt.de/blob/207392/b38bbdba4ef59ede2fec9e91f2a8179b/nvv-data.pdf
22.3.1976
Sechs Jahre nach dessen Inkrafttreten erlangte der Atomwaffensperrvertrag (NVV) in der Bundesrepublik Deutschland nach einer kontroversen Debatte Rechtsgültigkeit. Die DDR trat ihm mit der Sowjetunion im Jahre 1970 bei.
„I.
Nach Artikel 3 Abs. 2 des Gesetzes vom 4.Juni 1974 zu dem Vertrag vom 1. Juli 1968 über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (Bundesgesetzbl. 1974 II S. 785) wird hiermit bekanntgemacht, dass der Vertrag nach seinem Artikel IX Abs. 4 für
Die Bundesrepublik Deutschland am 2. Mai 1975
In Kraft getreten ist; die Ratifikationsurkunden sind am 2. Mai 1975 in London und Washington hinterlegt worden.“
Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen. Vom 22.3.1976, in: Bundesgesetzblatt Teil II, 1976, Nr. 25, 7.5.1976, S. 552, vgl.: https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav
DATUM
INFORMATIONEN (eigene Texte mit „Zitaten„, Umschrift eingedeutscht bzw. Englisch, Übersetzung: S.R.)
QUELLEN (Autor, Titel, URL u.a.)
25.3.1955
Mit dem Beitritt zur NATO verzichtete die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1955 auf den Besitz von Atomwaffen und anderer biologischer und chemischer Massenvernichtungswaffen.
„Unzulässige Rüstungsproduktion
Artikel 1
Die hohen Vertragsschließenden Teile und Mitglieder der Westeuropäischen Union nehmen die Erklärung des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland (am 3. Oktober 1954 in London abgegeben und diesem Protokoll als Anlage I beigefügt) zur Kenntnis, mit welcher die Bundesrepublik Deutschland sich verpflichtet hat, in ihrem Gebiet keine Atomwaffen, biologischen und chemischen Waffen herzustellen und geben ihre Zustimmung zu Protokoll.“
Gesetz betreffend den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Brüsseler Vertrag und zum Nordatlantikvertrag. Vom 24. März 1955, Protokoll Nr. III über die Rüstungskontrolle, in: Bundesgesetzblatt II, 1955, Nr. 7, 25.3.1955, S. 267, www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl255015. pdf%27%5D#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl255007.pdf%27%5D__1671125686196
12.9.1990
Im Zwei-plus-Vier-Vertrag bestätigte das vereinte Deutschland seinen Verzicht auf die Herstellung und den Besitz von Massenvernichtungswaffen, einschließlich der Atomwaffen. Derzeit gehören 190 Staaten zu den Unterzeichnern des Atomwaffensperrvertrags(NVV)
„Artikel 3
(1) Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihren Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen. Sie erklären, daß auch das vereinte Deutschland sich an diese Verpflichtungen halten wird. Insbesondere gelten die Rechte und Verpflichtungen aus dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen vom 1. Juli 1968 für das vereinte Deutschland fort.“
Auswärtiges Amt, Vertrag vom 12. September 1990 über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland „2+4-Vertrag“, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, MULT-781, www.auswaertiges-amt.de/blob/243466/2851e102b97772a5772 e9fdb8a978663/vertragstextoriginal-data.pdf
DATUM
INFORMATIONEN (eigene Texte mit „Zitaten„, Umschrift eingedeutscht bzw. Englisch, Übersetzung: S.R.)
QUELLEN (Autor, Titel, URL u.a.)
7.7.2017
Die UN-Generalversammlung nahm mit 122 von 193 Stimmen den Atomwaffenverbotsvertrag (TPNW) an. Er verbietet die Entwicklung und Produktion von Atomwaffen ebenso wie deren Stationierung oder gar Einsatz im Kriegsfall. Die Atommächte u.a. traten dem Vertrag nicht bei.
Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons, 7.7.2017, in: International Campaign to Abolish Nuclear Weapons, www.icanw.org/tpnw_full_text
DATUM
INFORMATIONEN (eigene Texte mit „Zitaten„, Umschrift eingedeutscht bzw. Englisch, Übersetzung: S.R.)
QUELLEN (Autor, Titel, URL u.a.)
22.1.2021
Der Atomwaffenverbotsvertrag (TPNW / AVV) tritt in Kraft, nachdem Honduras als 50. UN-Mitglied zum Vertragsstaat wird und 90 Tagen vergangen sind. Er wird somit Teil des Völkerrechts. Heute gehören dem AVV weltweit 68 Staaten an, 23 weitere Länder haben ihn bereits signiert und stehen vor der Ratifizierung.
„Zunächst ist es wenig überraschend, dass Staaten, deren Sicherheitspolitik explizit auf Atomwaffen beruht, deren Verbot ablehnen. Bereits 2016 haben die USA in einem Brief an NATO-Partner erläutert, wie ein Verbot von Atomwaffen die Legitimität der nuklearen Abschreckung unterminieren wird, weswegen alle NATO-Staaten dazu aufgerufen wurden, den Vertrag zu boykottieren. Auch Deutschland ist mit dem AVV [Atomwaffenverbotsvertrag] erstmals internationalen Verhandlungen über einen multilateralen Abrüstungsvertrag ferngeblieben.“
Internationale Anti-Atomwaffen-Kampagne (ICAN), Der Vertrag zum Verbot von Atomwaffen tritt in Kraft. Auswirkungen und Hintergrund, Oktober 2020, www.icanw.de/wp-content/uploads/2020/10/20-10-23_AVV_Inkrafttreten.pdf
27.11.2023
Die zweite AVV-Staatenkonferenz wird vom 27.11. bis 1.12.2023 in New York stattfinden:
„Atomwaffen sind verboten!
Der UN-Vertrag zum Verbot von Atomwaffen (AVV) ist am 22. Januar 2021 in Kraft getreten. Zwei Jahre später gibt es fast 70 Vertragsstaaten. Am 22. Januar 2023 feiern wir deutschlandweit mit vielen Aktionen das Bestehen des Atomwaffenverbotsvertrags. Die erste AVV-Staatenkonferenz wurde vom 21.-23. Juni 2022 in Wien abgehalten, die zweite findet vom 27.11. bis 1.12.2023 in New York statt. Das Highlight in 2023 wird das I CAN act on it Forum in Oslo am 9. und 10. März.“
Kommentar:
Der Countdown läuft auch für die Bundesregierung:
Bis zu Beginn der nächsten Staatenkonferenz zum AVV am 27.11.2023 sollte Deutschland diesem UN-Vertrag zum Verbot von Atomwaffen beitreten!
Damit würde Deutschland seine Verpflichtungen aus dem 2+4-Vetrag und dem Atomwaffensperrvertrag (s.o.) vollumfänglich nachkommen.
ICAN = Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen, https://nuclearban.de/